Auf Grimms Spuren…

Mythen, Märchen, Fantastisches


Musiker, Teufel, Rattenfänger II

Weitere Spurensuche zum Rattenfänger von Hameln

Die Sagenfänger vom Rattenfänger aus Hameln lässt sich bis in das 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Einen Aufschwung erlebte die Geschichte ab dem 16. Jahrhundert – und im 19. Jahrhundert wurde sie dann endgültig so populär, dass sie heute in zahlreichen Büchern, Filmen und Serien zu finden ist. Auch in Sprichwörtern hat sie ihren Platz: Wer die Menschen mit rhetorischem Geschickt an sich bindet oder verführt, der ist ein Rattenfänger – und das schon seit dem 19. Jahrhundert.

Wir wollen der Melodie des Rattenfängers heute ab dem Jahre 1800 bis in die Gegenwart folgen.

Der Rattenfänger von Hameln in und seit der Romantik

Zur Erinnerung: Die Brüder Grimm schrieben in ihren „Deutschen Sagen“ (1816–1818) die Geschichte von den Kindern aus Hameln, die von dem um seinen Lohn betrogenen Rattenfänger in die Berge entführt werden. Diese Variante der Sage, in der viele Elemente aus den früheren Quellen zusammengetragen werden, ist heute die mit Abstand bekannteste:

Als Quellen geben die Grimms selbst einige Texte an, die wir schon im ersten Artikel gesehen haben, darunter Samuel Erichs „Exodus Hamelensis: d.i. Der Hämelischen Kinder Aussgang“ (1682) und Johann Weyer „De Praestigiis Daemonum“ (1563). Wie für die Grimms typisch versuchen sie somit aus alten Schriftzeugnissen eine möglichst „originalgetreue“ Geschichte zu entwickeln. Sie waren jedoch nicht die einzigen Romantiker, die sich für diese Sage interessierten:

Clemens Brentano, mit dem die Grimms eng bekannt waren, und Achim von Armin nahmen die Geschichte 1806 in ihre Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ auf. Sie beschreiben das Gedicht dabei als „mündlich“.

„Des Knaben Wunderhorn“, S. 34. Das Digitalisat findet sich hier.

Der „Teufel wohl, / der uns die lieben Kinder stohl“ (Brentano/von Armin, V. 39f), ist darin ein buntgekleideter Mann, der die Kinder (hier sind es nur wage „an die hundert“) nicht in die Berge, sondern an die Weser führt. Zuvor (1804) hatte Johann Wolfgang von Goethe dem Rattenfänger, der bei ihm „gelegentlich ein Mädchenfänger“ (Goethe, V. 18) wird, selbst eine Stimme gegeben. Sein Gedicht, was bereits 1780 entstand, aber erst später im „Taschenbuch auf das Jahr 1806“ publiziert wurde, gehört bis heute zu den bekanntesten Umsetzungen des Motivs. Dies liegt nicht zuletzt an der musikalischen Umsetzung von Hugo Wolf.

Bild: Goethes „Der Rattenfänger“ im Erstdruck 1804. Das Digitalisat finde sich hier.

Neben Goethe, Brentano und von Armin dichtete viele weitere im 19. Jahrhundert vom Rattenfänger, darunter Joseph von Eichendorff (1837), Gustav Freytag (1840) und Karl Simrock (1844). Bedeutend für die internationale Verbreitung war das Gedicht „The Piep Piper of Hamelin“ (1842) des englischen Dichters Robert Browning, was die Sage im englischen Sprachraum berühmt machte. Bei ihm ist der Rattenfänger eine hagere Gestalt, halb in rot und halb in gelb gekleidet, mit stechenden blauen Augen und einem beinahe dämonischen Grinsen.1

Bild: Edmund Evans’ Illustration zu Browning, 1910

Auch abseits der Lyrik kam der Rattenfänger gut an: Die Schriftstellerin Benedikte Naubert, die besonders interessiert an historischen Stoffen war, schrieb im 2. Band ihrer „Neuen Volksmärchen der Deutschen“ (1791) von dem jungen Georg, der den Rattenfänger Thilo Hallad trifft. Dieser ist bei Naubert ein durchaus runder Charakter, in einer Geschichte mit viel mehr Details als es bei den Grimms der Fall ist.

Ein Grund für die weite Verbreitung der Rattenfängersage ist sicher seine metaphorische und politische Schlagkraft: Im 20. Jahrhundert wird der Rattenfänger vermehrt zu einem politischen Motiv. Wolfgang Mieder (2002) weißt auf zahlreiche politische Karikaturen aus ganz Europa hin, in dem das Rattenfängermotiv benutzt gewusst wird, um politische Gruppen oder Personen zu kritisieren. Die Zeitung „Simplicissimus“ verbreitete so im Jahr 1914 vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges folgende Karikatur unter dem Titel „Der Generalpardon“ einer Figur, die mit ihrer Flöte Münzen hinter sich tanzen lässt.

Simplicissimus, 18/49 (2.03.1914). Digitalitat findet sich hier.

Der Rattenfänger wurde so zum Symbol, um die politischen Feinde zu verunglimpfen, aber auch, um vor Demagogen zu warnen. So zeigen amerikanische Karikaturen der 30er Hitler als Rattenfänger. In der immer mehr von den Nazis kontrollierten Deutschen Presse erscheint der Rattenfänger dagegen als Symbol für den von den Nazis als Volksfeind verunglimpfter Kommunismus. „Man spürt“, schlussfolgert Mieder, „daß die Rattenfängerfigur als Symbol des politischen Verführers die extremsten Richtungen zu vertreten vermag, ja daß sie eigentlich jede Bewegung repräsentieren kann“ (Mieder: 17). In der Literatur, die dem NS-Regime kritisch gegenüberstand, wurde Hitler ebenfalls zum Rattenfänger. Erich Weinert bezeichnete ihn so in „Hitlers Nachtlied“ (1941) als Rattenfänger, der keine Ratten mehr findet. Auch Berthold Brechts Gedicht „Die wahre Geschichte vom Rattenfänger von Hameln“ oder auch „Das unglückliche Ende des bunten Mannes“ (um 1941), in dem der Rattenfänger auf dem Marktplatz gehängt wird, lässt sich als Vorzeichen auf den Untergang der NS-Diktatur lesen.

In den darauffolgenden Jahrzehnten nahm der Rattenfänger eine immer ambivalentere Rolle ein: Mal war er der politische Verführer, mal der Retter, welcher die eingesperrten Kindern von Hameln in eine bessere Zukunft führt, mal Zeichen einer Protestbewegung. Ein Beispiel für politische Musik vom Rattenfänger nach den Nazis ist „Der Rattenfänger“ (1974) von Hannes Wader. Darin singt der Rattenfänger, „zerrissen und stinkend in bunten Lumpen, mit einem Ring im Ohr“, selbst von seiner Geschichte. Warum die Ratten ihm folgen, wird damit erklärt, dass er einen einzigen Ton spielt, der so hoch ist, dass nur die Ratten ihn hören können. Die Hamelner Bürger werfen ihm aber vor, mit dem Teufel im Bund zu stehen: Anstatt ihn zu entlohnen, verprügeln sie ihn des Nachts und hetzen die Hunde auf ihn. Der Rattenfänger holt sich Hilfe: „Und ich hoffte, die Kinder würden gerechter, als ihre Väter sein.“ Die Kinderentführung wird umgedeutet: Es geht nun darum, dass die junge Generation gegen die Vergangenheit der alten (Diktatur, Krieg, Gewalt) auf- und für die Gerechtigkeit einsteht.

Und die Kinder beschlossen, mir zu helfen und nicht mehr zuzuseh’n,
Wo Unrecht geschieht, sondern immer gemeinsam dagegen anzugeh’n.

Und die Hamelner Kinder hielten ihr Wort und bildeten ein Gericht
Zerrten die Bosheit und die Lügen ihrer Väter ans Licht
Und sie weckten damit in ihren Eltern Betroffenheit und Scham
Und weil er sich schämte,
schlug manch ein Vater sein Kind fast krumm und lahm
Doch mit jeder Misshandlung wuchs der Mut der Kinder dieser Stadt.

Wader, Der Rattenfänger

Die Bewegung scheitert jedoch: Es ist nicht mehr der Rattenfänger, der die Kinder aus der Stadt treibt, sondern die eigenen Eltern, um die angestammte Machtposition zu halten:

Es geschah was heute noch immer geschieht, wo Ruhe mehr gilt als Recht
Denn wo die Herrschenden Ruhe wollen, geht’s den Beherrschten schlecht
So beschloss man die Vertreibung einer ganzen Generation
In der Nacht desselben Tages begann die schmutzige Aktion
Gefesselt und geknebelt, von den eigenen Vätern bewacht
Hat man die Kinder von Hameln ganz heimlich aus der Stadt gebracht

Wader, Der Rattenfänger

In der Stadtchronik wird jedoch, wie das Lied berichtet, eingetragen, der Rattenfänger habe die Kinder entführt. Ähnlich wie in Brechts Gedicht wird die Geschichte umgedeutet; hier geht es nun aber explizit darum, wer was schreibt und wer die Macht hat, den Status Quo zu halten oder zu verändern. Der Rattenfänger wird am Ende zum Symbol dafür, für die Schwächeren aufzustehen, zu kämpfen. Er wird selbst zum politischen Akteur:

Doch noch immer herrscht die Lüge über die Wahrheit in der Welt
Und solange die Gewalt und Angst die Macht in Händen hält
Solange kann ich nicht sterben, nicht ausruh’n und nicht flieh’n
Sondern muss als Spielmann und Rattenfänger immer weiter zieh’n
Denn noch nehmen Menschen Unrecht als Naturgewalt in Kauf
Und ich hetze noch heute die Kinder dagegen immer wieder auf

Wader, Der Rattenfänger

Sowohl in Theaterstücken als auch in Prosatexten nahm der Rattenfänger im 20. Jahrhundert viel Raum ein – sogar in der Werbung hat er einen angestammten Platz. Zu nennen sind hier die Werke von berühmten Schriftstellern wie Michael Ende („Der Rattenfänger. Ein Hamelner Totentanz“, 1993). Daneben hat der Rattenfänger einen angestammten Platz in Film und Fernsehen, wo es immer wieder Adaptionen und Anspielungen auf diese Geschichte gibt. Seit 1984 vergibt die Stadt Hameln auch einen „Rattenfänger-Literaturpreis“ für phantastische Kinder- und Jugendliteratur und seit 2014 steht die Geschichte bei der UNESCO auf der nationale Liste des immateriellen Kulturerbes.

Wir sehen also: Die fremde Melodie des Rattenfängers verführt die Menschen erfolgreich seit 400 Jahren – und auch heute noch tanzen wir ihr oft und in ganz verschiedenen Gestalten hinterher.

Literaturverzeichnis

Primärquellen

Brecht, Bertholt: Gesamte Werke. Hgg. von Elisabeth Hauptmann. Frankfurt a.M. 1967. Bd. 9.

Brentano, Clemens/Achim von Armin: Der Rattenfänger von Hameln. In: Dies.: Des Knaben Wunderhorn. Erster Teil. Leipzig und Wien 1844, S. 34 f. (Online).

Der Generalpardon [Karikatur]. In Simplicissimus, 18/49 (02.03.1914) (Online).

Grimm, Jacob und Wilhelm: Die Kinder zu Hameln. In: Deutsche Sagen. Frankfurt a.M. 2010, S. 269–271.

von Goethe, Johann Wolfgang: Der Rattenfänger. In: Christoph Martin Wieland und Johann Wolfgang von Goehte (Hgg.): Taschenbuch auf das Jahr 1804. Tübingen 1084, S. 148f. (Online).

Naubert, Benedikte: Die hamelschen Kinder, oder das Märchen vom Ritter St. Georg. In: Dies.: Neue Volksmährchen der Deutschen. 2. Bändchen. Lepizig 1791, S. 353–480 (Online).

Waber, Hannes: Der Rattenfänger [Lied]. In: Ders.: Der Rattenfänger. Amsterdam 1974, Track 1.

Weinert, Erich: Rufe in die Nacht. Berlin 1947.

Sekundärliteratur

Birr, Ekbert: Geist unbound. Zur Figur des deutschen als eines fremden Denkens in der angelsächsischen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Alexandra Böhm/Monika Sproll (Hgg.): Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800. Würzburg 2007, S. 291–316.

Dickson, Arthur: Browning’s Source for „The Pied Piper of Hamelin“. In: Studies in Philology 23/3 (1926), S. 327–336.

Dobbertin, Hans: Quellensammlung zur Hamelner Rattenfängersage. Göttingen 1970. 

Mieder, Wolfgang: Der Rattenfänger von Hameln. Die Sage in Literatur, Medien und Karikaturen. Wien 2002.

Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur: Brachtum um die Rattenfängersage und Niederdeutsches Theater gehören zum immateriellen Kultureerbe. In: mwk. nidersachen.de (12.12.2014). Online.

Uther, Hans-Jörg: Rattenfänger von Hameln. In: Enzyklopädie des Märchens Online (2016).

  1. Ekbert Birr argumentiert in seinem Aufsatz „Geist unbound“, dass besonders der englische Sprachraum des 19. Jahrhunderts deutsche Philosophie und Dichtung, besonders aus dem Idealismus und der Romantik, als fremd und beinahe unheimlich aufnahm. Das hatte wiederum eine große Faszination auf die angelsächischen Dichter . Vielleicht ist das einer der Gründe, warum gerade eine so lokale Sage auch im englischen Sprachraum so eine weite Verbreitung fand. ↩︎

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