Auf Grimms Spuren…

Mythen, Märchen, Fantastisches


Musiker, Teufel, Rattenfänger

Spurensuche zum Rattenfänger von Hameln

Auf dem Album „Super Trouper“ (1980) der schwedischen Popband ABBA findet sich ein Lied, was von einer eigenartigen Begegnung erzählt: „We′re all following a strange melody“, heißt es darin „We’re all summoned by a tune /

We′re following the piper / And we dance beneath the moon.“ (Abba, The Piper).

ABBA bezieht sich dabei wohl auf eine Figur, die überall zu finden ist: von den Werken Johann Wolfgang von Goethes bis zu zeitgenössischen Fantasyserien wie Grimm (2011–2017) und -bücher wie Terry Pratchetts Maurice, der Kater (2001). Die Rede ist vom Rattenfänger aus Hameln.

Wir wollen heute seiner fremden Melodie folgen und auf Spurensuche durch die Geschichte gehen. Dazu ist dieses Thema in zwei Blöcke geteilt:

Die bekannteste Geschichte von dem Mann, der aus Rache dafür, dass seine Tätigkeiten als Rattenfänger nicht ausreichend entlohnt werden, die Kinder aus Hameln an einen fremden Ort entführt, finden sich bei Jacob und Wilhelm Grimm. In ihren „Deutschen Sagen“ (1816–1818) schreiben die Brüder folgendes:

Die Grimms sind aber weder die ersten noch die einzigen, die sich mit dieser Geschichte auseinandersetzen. Welchen historischen Kern die Sage hat, ist an vielen Stellen ausführlich diskutiert worden und auch zu dem Verbleib der Kinder gibt viele Theorien. Während besonders das 16. Jahrhundert den Teufel im Verdacht hatte, suchte die Aufklärung nach Erklärungen ohne übernatürlichen Grund: Schon Gottfried Leibnitz spekulierte im 17. Jahrhundert, ob die Geschichte auf einen Kinderkreuzzug anspielt. Die moderne Erzähl- und Geschichtsforschung kennt heute verschiedene Theorien (siehe dazu: Mieder: 10f). Die zahlreichen Texte zu nennen, auf die sich die Sagen stützt oder in denen sie transformiert wurde, würde hier den Rahmen sprengen (verwiesen sei dazu auf die „Quellensammlung zur Hamelner Rattenfängersage“ (1970) von Hans Dobbertin). Stattdessen wollen wir hier ein paar spannende Schlaglichter setzen.

Frühe Quellen über den Rattenfänger und die Kinder von Hameln

Hans-Jörg Uther stellt in der „Enzyklopädie des Märchens“ heraus, dass sich ähnliche Sagen vom Kinderauszug besonders zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten. Die erste Verbindung zur Stadt Hamel findet sich bereits im 14. Jahrhundert: Hier ist in einzelnen Urkunden und Messbüchern von dem Kinderauszug die Rede. Die älteste schriftliche Aufzeichnung stammt aus dem Schlussblatt einer Lüneburger Handschrift, was sich wiederum auf das Hameler Statutenbuch „Donat“ bezieht. Der Rattenfänger ist zunächst nicht explizit genannt, auch wenn es zu diesem Zeitpunkt bereits Sagen von sogenannten „Tierbannern“ gibt. Erst im 16. Jahrhundert werden beide Erzählstränge kombiniert: Bedeutend ist dabei der niederländische Gelehrte Johann Weyer. In dessen „De Praestigiis Daemonum“ (1563) weiß er Folgendes zu berichten:

Bild: Wier, Johannes: De praestigiis Daemonum, S. 70f. Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. Melde Fehler gerne unter grimmsspuren@gmx.de oder als Kommentar.

Ein Flötenspieler wurden in Hameln bei Braunschweig angeheuert, um die Mäuse hervorzulocken [zu vertreiben]. Als man sich nicht an die Vereinbarung hielt, bezahlte er den Undank mit einer verbrecherischen Tat. Wie ihr hören werdet, wurden durch denjenigen, der wegen seiner verschiedenen Kleidung „Alle Farben“ genannt wurde, im Jahr 1284, am 26. Juni einhundertdreißig Jungen aus der Stadt hinaus zum Ort Calvariae1 am Fuße des Berges Koppen geführt. Sie gingen zu einem Ort in Richtung Norden und verschwanden dort; sie sind niemals wieder erschienen. Diese Begebenheit ist in den Annalen von Hameln aufgeschrieben, die in den religiösen Archiven sorgfältig aufbewahrt und in den Büchern der heiligen Stätte gesammelt werden. In dessen Fenstern ist sie dargestellt, das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen.

Hier finden sich bereits einige Elemente, die später von den Grimms aufgenommen wurden (wie beispielsweise die Bezeichnung des Ortes und das Datum). Weyer gibt sich offenbar mit den genauen Angaben sowie der Beteuerung, er habe die Quellen mit eigenen Augen gesehen, große Mühe, die Geschichte als wahr und glaubwürdig auszuweisen. Was er jedoch genau mit den Annalen meint, ist unklar – bedeutend ältere schriftliche Quellen hat es zu genau dieser Geschichte (Betrogener Tierbanner + Kinderauszug) entweder nie gegeben oder sie haben die Zeit nicht überdauert.

In Bezug auf das Glasfenster sieht die Lage dagegen anders aus: Hans Dobbertin beschreibt dieses als älteste Quelle genau dieser Erzählung.

Es [das Glasfenster] befand sich in einem seitlichen Ostfenster der Marktkirche neben dem Ratsgestühl hinter zwei Beichtstühlen, also in dem noch vorhandenen gotischen Ostfenster des südlichen Seitenschiffes, das zu einem Erweiterungsbau der Zeit um 1300 gehört

Dobbertin: 1

Bild: Älteste Darstellung des Rattenfängers, 1592 in Hameln nach verschiedenen Glasfenstern, darunter das der Marktkirche für die Reisechronik des Elsässer Augustin von Mörsperg gemalt (Bildquelle: Wikimedia)

Wenn dieses Fenster tatsächlich mit dem restlichen Teil des Seitenschiffes zu Beginn des 14. Jahrhunderts erbaut wurde, dann ließe sich die Sage (auch in der Kombination mit dem Rattenfänger) beinahe bis in das Jahr 1284 nachweisen, was Weyer und die Grimms benennen. Kurz bevor das Glasbild im Jahre 1660 ersetzt worden ist, soll der Hamelner Lateinschulrektor Samuel Erich den Wortlaut der Glasinschrift abgeschrieben haben. Er überführte sie in sein Werk „Exodus Hamelensis: d.i. Der Hämelischen Kinder Aussgang“ (1655), in dem er den Rattenfänger als eine Art Teufel beschreibt.

Das Glasfenster ist auch in weiteren früheren Quellen belegt: Es wurde beispielsweise 1614 von Heinrich Kornmann beschrieben, der in seinem Werk „Mons Veneris, Fraw Veneris Berg“ erzählt, dass im Jahre 1284, auch hier am 22. Juni, „der Teuffel als ein Maußfänger und Sackpfeiffer umgegangen [ist] und hat hundert und dreissig Knäblein und Mägdlein zu sich gelocket“ (Kornmann, 383). Einen Rattenfänger erwähnt er jedoch nicht.

Bild: Kornmann, Heinrich: Mons Veneris, Fraw Veneris Berg, S. 1 und 383. Das Digitalitat findet sich hier.

Die Kinder werden vom Teufel zum Koppenberg gelockt und bleiben verschwunden. Zum Andenken ist diese Geschichte in der Pfarrkirche der Stadt „in einem Fenster gemahlet, welches Fenster Friderich Poppendick ein Burgermeister hat renouiren lassen“ (ebd. 384). Hamelns Oberbürgermeister Friedrich Poppendick ließ das Fenster tatsächlich 1672 erneuern – ob er dabei ein neues Bild vom Rattenfänger stiftete oder das alte, was schon Weyer beschreibt, erneuert, ist nicht klar (vgl. dazu: Inschriftenkatalog Stadt Hameln).

Bei Kornmann hat der Rattenfänger zwar kein Flöte, dafür aber eine Sackpfeife – beide Instrumente finden sich in verschiedenen Varianten in der gesamten Tradition und spiegeln sich am in der englischen Bezeichnung „Piep Piper“ (wörtlich in etwa: „der bunt gescheckte Flötenspieler“) für den Rattenfänger wieder. Andere Instrumente sind sind sehr selten.2

Wie Erich identifiziert Kornmann den Rattenfänger als den Teufel. Für diese Gleichsetzung lassen sich sogar noch ältere Belege finden: Bereits im 16. Jahrhundert erklärt Jobus Fincelius  in seinem Werk „Wunderzeichen“ (1556) der Entführer von Hameln (auch hier ist er noch kein Rattenfänger!) sei der Teufel und habe magische Fähigkeiten:

Von des Teuffels gewalt vnnd / boßheyt wil ich hie ein wahrhafftige/
Historiam melden. Vngefehrlich für / 180 jaren hat sichs begeben zu
Ham/mel inn Sachsen an der Weser, das / der Teuffel am tag Marie
Magdalen/ne inn menschlicher gestalt sichtiglich / auff den gassen
vmgegangen ist, hat / gepfiffen, vnd vil kinder, kneble vund meidle an
sich gelockt, vnd tum stad/thor nauß geführt an ein berg. Da er / dahin
gekommen, hat er sich mit den kin/dern, der sehr vil gewest, verloren,
das / niemandt gewüst, wo die kinder hin/kommen sind. Solchs hat ein
Meidle, das von fern nachgefolgt, jren El/tern angezeigt,ist derwegen
bald auff/ wasser vund Land an allen örtern fleis/sige nachforschung
vund bestellung geschehen. Ob die kinder villeicht gesto/len vnd hinweg
geführt weren word/den. Aber es hat kein mensch erfarn, wo sie hin
kommen sind. Solchs hat / die Eltern höchlich betrübt, vnnd ist
einschröcklich exempel götlichs Zorns /vberdie sünde. Solches alles ist
be/schriben in dem Stadbuch zu Ham/mel, da es vil hoher Leut selbs
gelesen / vnd gehört.

Fincelius, Wunderzeichen, S. 108.

Das von Fincelius eingebaute Motiv vom Kind, was zurückkehrt, wird auch von Kornemann aufgenommen und spielt später in beinahe allen Varianten – auch und besonders bei den Grimms – eine Rolle. Das bei Fincelius angepasste Datum (22. Juli 1377) findet sich zwar auch an anderen Orten, ist aber deutlich weniger verbreitet als der 22. Juni 1284. Dieser ist sogar auf einer Inschrift des im 17. Jahrhundert erbauten Rattenfängerhaus zu lesen, auf das sich auch die Grimms explizit beziehen:

Bild: Schrift auf dem Rattenfängerhaus, entnommen aus der Wikimedia.

Das Aussehen des Kinderentführers, des Teufels oder eben des Rattenfängers (je nach Text) variiert im 16. und 17. Jahrhundert. Es lassen sich aber zwei Varianten feststellen, die von den Grimms munter kombiniert werden: In den Ausführungen des Northeimer Gildebuchs der Knochenhauer wird er als ein mit Flicken bunt bekleideter Lumpensammler beschrieben. Der Jesuit Athanasius Kircher („Mussurgia universalis“, 1650), der ebenfalls von einem Rattenfänger spricht, lässt ihn dagegen erstmalig die Kleidung eines Jägers tragen.

Am nächsten Tag gegen Mittag zeigte sich jener Mann von neuem, in Jägergestalt, schrecklichen Angesichts, mit einem roten Hut von ungewöhnlicher Machart und sobald er auf einer anderen Pfeife, die von der ersteren ganz verschieden war, spielte, da zogen alle Kinder der ganzen Stadt, von vier bis zwölf Jahren, heraus und folgten dem seltsamen Klan.

Kircher, übersetzt von Christoph Fischer, zit. nach Dobbertin, S. 76

Die Sage hat somit im 16. und 17. Jahrhundert all diejenigen Elemente gewonnen, die sie auch später bei den Grimms ausmacht:

  • Ein fremder Rattenfänger kommt nach Hameln und vertreibt mit einem Instrument (meist einer Flöte) die Ratten.
  • Als der folgende Lohn nicht gezahlt wird, kehrt er (in Gestalt eines Jägers) zurück und entführt die Kinder in die Berge.
  • Einige Kinder kehren als Zeugen zurück oder werden nicht entführt
  • Variante: Es handelt sich nicht um einen Rattenfänger, sondern den Teufel als Kindesentführer.

In dieser Gestalt wurde die Rattenfängersage auch schon vor den Grimms international bekannt. Maßgeblich war dafür die erste Übersetzung ins Englische von Richard Vestegan, die 1605 in Antwerpen erschien.

Bild: Titelbild von Richard Vestegan, „A Resitution of Decayed Intelligence in Antiquities“, 1605, Digitalitat findet sich hier

Neben aus heutiger Sicht eher fragwürdigen Geschichten über die „edlen, noblen Sachsen als Vorfahren der Engländer aus Deutschland“ berichtet Vestegan in seiner pseudo-historischen Chronik auch vom Rattenfänger. Er schreibt, dass am 22. Juli 1376 130 Kinder aus Hameln verschwunden seien und hat auch eine Erklärung dafür, wohin sie gegangen sind:

The occasion now why the matter came vnto my remembrance in
speaking of Transiluania, for that some do reporte that there are diuers
found among the Saxons of Tansiluania to haue lyke surnames vnto
diuers of the burgers of Hamel, and wil seem thereby to infer, that this
iugler or pyed pyper, might by negromancie haue transported them
thether, but this carieth little apparence of truthe; because it would haue
bin almost so great a wonder vnto the Saxons of Transiluania to haue
had somany strange children brought among them, they know not how,
as it was to those of Hamel to lose them; and they could not but haue
kept memorie of so strange a thing, yf in deed any such thing had there
hapned.

Übersetzt:

Ich erinnere mich an diese Begebenheit im Zusammenhang mit Transsilvanien, denn einige berichten, dass es unter den Sachsen in Transsilvanien mehrere Personen mit ähnlichen Nachnamen wie Bürger von Hameln gibt, und scheinen daraus schließen zu wollen, dass dieser Gaukler oder Rattenfänger sie [die Kinder] dorthin gelockt haben könnte. Dies scheint unwahrscheinlich, hätten sich die Sachsen in Transsilvanien doch über so viele fremde Kinder gewundert, von denen sie so wenig wussten, wie sie hierher gekommen waren, als die Bürger aus Hameln wussten, wie sie diese [die Kinder] verloren hatten; zudem hätten sie sich an solche seltsamen Dinge direkt erinnert, wären sie je geschehen.

Diese erste englische Version war eine der Vorlagen für Robert Brownings Gedicht „The Pied Piper of Hamelin“ (1842), was zusammen mit der Variante der Grimms und einigen anderen Umsetzungen die Popularität der Geschichte bis heute begünstigte, wie wir im nächsten Teil sehen werden…

Fußnoten

  1. In diesem Kontext ist unklar, was damit gemeint ist, denkbar ist die Übersetzung „Schädelstätte“ in Anlehnung an die Passion Jesu oder eine Hinrichtungsstätte allgemein. ↩︎
  2. Nur vereinzelt finden sich Varianten zu diesem Instrument. 1580 beschreibt der Chronist Johannes Pomarius ihn als Trommler. Auch im 21. Jahrhundert spielt er manchmal andere Instrumente: Die oben genannte Serie „Grimm“ beispielsweise, gibt ihrer Rattenfängerfigur eine Violine in die Hand. ↩︎

Literaturverzeichnis

Primärquellen

ABBA: The Piper [Lied]. In: Dies.: Super Trouper. Stockholm 1980, Track 8.

Fincelius, Jobus: Wunderzeichen. Jena 1556.

Grimm, Jacob und Wilhelm: Die Kinder zu Hameln. In: Deutsche Sagen. Frankfurt a.M. 2010, S. 269–271.

Kircher, Athanasius: Musurgia universali (Rom 1650.). Übersetzt von Christoph Fischer. Nördlingen 1648. Zitiert nach: Hans Dobbertin: Quellensammlung zur Hamelner Rattenfängersage. Göttingen 1970, S. 76.

Kornmann, Heinrich: Mons Veneris, Fraw Veneris Berg. : Das ist, Wunderbare und eigentliche Beschreibung der alten heydnischen und Newen Scribenten Meynung von der Göttin Venere. Frankfurt a.M. 1614.

Nr. 76: St. Nikolaie, 1672. In: Inschriftenkatalog: Stadt Hameln
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge. Online.

Vestegan, Richard: A Resitution of Decayed Intelligence in Antiquities. London 1655.

Weier, Johannes: De praestigiis Daemonium. Basel 1577. Digitalitat [zuletzt abgerufen am 01.04.2025].

Sekundärliteratur

Dickson, Arthur: Browning’s Source for „The Pied Piper of Hamelin“. In: Studies in Philology 23/3 (1926), S. 327–336.

Dobbertin, Hans: Quellensammlung zur Hamelner Rattenfängersage. Göttingen 1970.    

Mieder, Wolfgang: Der Rattenfänger von Hameln. Die Sage in Literatur, Medien und Karikaturen. Wien 2002.

Uther, Hans-Jörg: Rattenfänger von Hameln. In: Enzyklopädie des Märchens Online (2016).


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