Einblicke in „Die Königin vom brennenden See“
Einige Texte und Geschichten sind tief im kulturellen Gedächtnis verankert. Sie werden immer wieder neu erzählt, verfilmt, erforscht. Für andere gilt das nicht: Sie werden vollkommen vergessen oder zumindest nur selten wieder erzählt. Zu diesen gehört auch der Text, auf den wir heute einen Blick werfen wollen: „Die Königin vom brennenden See“ ist eine mittelhochdeutsche Kurzerzählung, die zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert entstand und in einer einzigen Sammelhandschrift (SuStB Augsburg 2° Cod. 170; 64ra–85ra) überliefert ist.

Bild: SuStB Augsburg 2° Cod. 170; 64ra, Digitalisat findet sich hier
Immerhin ist sie einmal editiert worden, 1977 von Paul Sappler, viel Forschung gibt rund um sie es jedoch nicht. Meist ist die Erzählung nur Aufzählungsglied in einer Reihe von Feen- und Marthenehenerzählungen, überstrahlt von Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur oder Thürings von Ringoltingen Melusine. Ein Grund mehr, die Erzählung einmal selbst ins Licht zu rücken und einmal kritisch zu prüfen: Handelt es sich hier denn wirklich um eine Feengeschichte?
Eine Zusammenfassung der Handlung gibt es bei Instagram. Dazu einmal auf Walther klicken:

„Die Königin vom brennenden See“ erzählt die Geschichte des jungen Königs Hans. Auf einem Jagdausflug verläuft dieser sich im Wald und findet dort eine geheimnisvolle Burg, die eine schöne Königin verwaltet. Wie für eine solche Geschichte typisch heiraten beide. Zweimal kommt sie ihn zuvor in der Nacht besuchen, einmal legt sie ihm das Tabu auf, sie nicht zu berühren, beim zweiten Mal ist es unklar, was sie von ihm wünscht. Spannend ist dann aber das Tabu, was sie ihm schlussendlich vor der Hochzeit auferlegt:
„wie licht du machest bluotig mich, / so wäre es so umb mich gewant, / das ich mich müst schaiden zuo hant / und als mîn gesind / voran fieren mit mir geswind, / darzuo was richait ist by mir. / mit warhait will ich sagen dir: / und wurden unns ock kind beschert, / wa wär lind oder hert, / die fieren mit mir auch von dan. / und müstest die auch hinder dir lan.“
„Wenn du mich zum bluten bringest, so wäre es so um mich bestellt, dass ich mich von dir trennen müsste und mein Gefolge mit mir führen müsste. Dazu würde ich alle Reichtümer mit mir nehmen. Mit Sicherheit will ich dir sagen: Und wenn wir Kinder hätten, wäre dies gnädig oder streng, sie kämen mit mir und du müsstest sie zurücklassen.“ (Übersetzt von der Verfasserin)
(KvbS, 758-768)
Hans scheint keinen Zweifel daran zu haben, dass er diese Vorgabe einhalten kann, immerhin verspricht er sofort:
„bis an das ende min / sol kain pluot von mir wesen schin. / wer es och grösser, wenn es ist, / so müst sinn, muot und darzuo list / stetiklich darzuo geflissen sind, / da üch kain laid mecht werden schin / als wenig as umb ain haur prait.“
„Bis an mein Ende soll kein Blut [von Euch] durch mich fließen. Mehr noch: Es werden Sinn, Wille und Weisheit stets bemüht sein, dass Euch so wenig Leid zustößt wie ein Haar breit ist.“
KvbS, 775–779
Bereits hier lässt sich vermuten: Die Erzählung folgt, zumindest in Teilen, dem Schema der sogenannten „gestörten Mahrtenehen“, was von Friedrich Panzer 1902 in der Analyse zu Ulrich Fütrers „Poytisler“ aufgestellt worden ist. Geschichten von diesem Typ folgen, so Lutz Röhrich, folgendem Schema:
- Ein junger Mann macht die Begegnung mit einer (vermeintlich) übernatürlichen Frau (selten sind die Geschlechter getauscht)
- Die Frau stellt ein Tabu auf, nach dessen Bruch die Ehe als gescheitert gilt
- Der Mann bricht dieses Tabu aus verschiedenen Gründen
- Die Frau verlässt ihn, die Ehe scheitert. In einigen Versionen schafft er es, sie wieder zu gewinnen
Obwohl die Geschichte eben diesem Muster zu folgen scheint, sträubt sie sich besonders gegen die Zuschreibung der Begegnung mit einer übernatürlichen oder feenhaften Frau: Die ursprünglich aus keltischem Sagengut stammende Feengeschichte lebt in der Regel unter anderem von der Spannung zwischen der wilden, vorchristlichen Fee und dem höfischen Ritter. Diese ist hier aufgelöst: Die Königin ist Teil der höfischen Welt, sie erkennt Hans, weil sie ihn schon einmal auf einem Turnier in Frankreich gesehen hat. Obwohl sie das fantastischen Land des brennenden Sees, der von einem Riesen bewacht wird, beherrscht wird die Königin nie explizit als Fee oder auch nur als Zauberin benannt. Im Gegenteil: Sie erscheint stets als mustergültige adelige Dame; ähnlich wie Konrad von Würzburg es in seinem berühmten Roman Partonopier und Meliur vormachte. Armin Schulz verweist darauf, dass die Spannung zwischen dem Drang, die Faszinationskraft der Fee beizubehalten und zugleich nicht in unter den Verdacht zu geraten, von dämonischem zu erzählen. Für ihn greift erst mit dem Tabubruch überhaupt eine magische Logik, die durch den Weg in eine Anderswelt, deren magische Elemente immer wieder beschnitten werden, betont wird (Schulz 2004: 254). Er kommt somit zu dem Urteil, hier liege ein „harmlose[s] literarische[s] Spiel mit mythischen Elementen“ vor (Schulz 2004: 255).
Paul Sappler, der die Erzählung als erster und einziger editierte, sah die Abwesenheit des Magischen als erneuten Hinweis auf die Entproblematisierung des Schemas:
„Die Technik, mit der der Autor am Magischen vorbeikommt, ist sehr einfach: Die häufige Diabolisierung der Fee hätte ihm schon zu viel Ablenkung durch eine Problematik gebracht, und so bleibt es bei einer selbstverständlichen Christlichkeit des ganzen Personals“
Sappler 1977: 181
Mirna Kjorveziroska nennt die Erzählung daher eine „Feenerzählung wider Willens“ (Kjorveziroska 2022: 3) und betont, dass es besonders die Tendenz dazu ist, die Eskalation zurück zu fahren, welche diese Erzählung von anderen unterscheidet und sie zu einer „Feenerzählung light oder sogar eine[r] Feenerzählung, die keine Feenerzählung sein will“ (Kjorveziroska 2022: 3) macht.
Spannender als die Frage, ob es sich bei der Königin denn nun um eine Fee handelt, ist also, ob es sich denn durchgehen um eine Feenerzählung handeln könnte. Dazu ein Blick zurück in den Text: Natürlich schafft es Hans nicht, sich an das Tabu zu halten. Allerdings hintergeht er seine Frau auch nicht oder tut ihr gar Gewalt an: Bei einer freundlichen Umarmung vor dem Kirchgang verletzt sie sich selbst an einer glufe, einer Schmucknadel, die er bei sich führt:
„künig Hanns, das ich dich ie gesach, / das muoß got erbarmen […]. das ich nun läder schäde mich / von dir muoß zuo diesen tagen, / das pringt mir inikliches clagen. / unmuot und truren manigvalt / muoß ich mir haben mit gewalt / stetiklich und min gesind. / owe der lieben kind, / das ich und sy dich müssen laun!„
König Hans, dass ich dich je sah, das muss Gott erbarmen! Ich muss mich nun von dir trennen, was mir großen Kummer bringt. Viel Zorn und Traurigkeit beherrschen mich und mein Gefolge. Die armen, lieben Kinder: Ich und sie müssen dich verlassen!
KvbS, 1012–1023
Eben dieses Bluten-Lassen ist spannend, immer ist „Blut ist ein ganz besondrer Saft“ (Goethe 2012: V. 1740): Als Metapher für Macht, Grausamkeit, Tyrannei, aber auch als Symbol von Opfer, Leben oder Familie findet sich Blutspuren über die ganze Kulturgeschichte verteilt. Hier kannst du beispielsweise nachlesen, in welchem Zusammenhang Blut mit Geschichten rund um Elfen und Feen stehen könnte. Die hochmittelalterliche Literatur kennt Blut ebenfalls in vielfachen Formen: Auf den Schlachtfeldern der Heldenepik und der chanson de geste-Dichtung fließt es in Strömen, aber auch in der wenig blutrünstigen Arthusepik hat es, wie die berühmte Blutstropfenszene im Parzival zeigt, seinen besonderen Platz. Besonders die Frage danach, wer wessen Blut vergießen darf, spielt, nicht zuletzt in der Frage nach Macht und Herrschaft, immer wieder eine Rolle in der höfischen Literatur. Dabei ist oft derjenige, der die körperliche Unversehrtheit des anderen verletzt, häufig derjenige, der sich dessen Körper und seine Macht aneignet. In „Die Königin vom brennenden See“ scheint dies anders zu sein: Macht, hat in dieser Szene niemand; sicher nicht die unbenannte Königin, die auf die Knie sinkt und wünscht, all dies wäre nie geschehen, und ganz sicher nicht Hans, der nun seine Frau, seine Kinder und damit seine potenzielle Erblinie, aber auch Reichtum und Land verliert (wenn er auch immer noch der zukünftige König von Frankreich bleibt).
Es beginnt der zweite Teil der Erzählung, der sich immer weiter vom Schema einer Feen- und Mahrteneheerzählung entfernt und vielmehr an ein Heimkehrabenteuer erinnert: Zunächst fährt die Königin in ein Land, von dem Hans nur den Namen erfährt: „es ist der prinnent see genant“ („es ist der brennende See genannt“ KvbS, 1088). Wieso der See brennt, bleibt offen: Denkbar ist, dass es sich um eine Metapher für ein weit im Westen oder Osten liegendes Land handelt (die auf- und untergehende Sonne würde den See zum Brennen bringen) oder, dass das Feuer, in der höfischen Literatur auch mit sexueller Leidenschaft verbunden, hier tatsächlich die Unzugänglichkeit eines Ortes, aber auch des ehelichen Zusammenlebens markiert. Dafür spricht in jedem Fall der weitere Verlauf der Geschichte: Hans macht sich nun auf die Suche nach seiner Frau. Dabei befragt er mehrere Ritter, immer weiter von seiner Heimat Frankreich entfernt, einmal sogar in Indien, und einen Einsiedler. Um verschiedene Hindernisse zu überkommen, geht er viele Risiken ein: Um eine Bergkette zu überwinden lässt er sich von seinem treuen Sattelknecht in eine Maultierhaut einwickeln und von einem Greif darüber tragen. Eine ganz ähnliche Szene findet sich im Herzog Ernst, der anonyme Dichter macht sich jedoch nicht die Mühe auf diesen oder einen anderen Text zu verweisen: Ohne weiteren Kommentar oder detaillierte Beschreibungen erzählt er eine Episode nach der anderen. Aus Szenen wie diesen lässt sich wohl leicht ableiten, warum die Erzählung oftmals als märchenhaft oder einfach bezeichnet wurde – dies liegt zum einen an der einfachen Sprache, zum anderen aber auch an ihrer Tendenz, alles, was geschieht, als möglichst unproblematisch herauszustellen. All dies sowie weitere Probleme wie blinde Motive (beispielsweise ein Ring, der als Minnepfand ausgegeben wird, auf den aber nie zurückgegriffen wird) wurde der Erzählung oft als Ausdruck mangelnder Qualität vorgeworfen.
Gudrun Felder schreibt dazu:
Die strikte Erzählweise ohne jede Abschweifung von der eigentlichen Kernhandlung führt zu einer eher isolierten Stellung des Werkes in seiner literarhistorischen Umgebung. Es ist keine Vorlage bekannt; einiges über seine Anregungen läßt sich aber aus dem Text herauslesen: Der Autor hat auf diverse, aus anderen Erzählungen bekannte Motive zurückgegriffen […], aber nie in der unmittelbaren Zitiertechnik, die z. B. den ‘Friedrich von Schwaben’ kennzeichnet. Der Stil ist ungekünstelt und direkt, teilweise ein wenig unbeholfen; die Figuren erhalten keine Namen (abgesehen von dem Protagonisten, König Hanns) und bleiben insgesamt blaß, ihre Charakterisierung stützt sich hauptsächlich auf funktionsabhängige Konstanten […].
Felder 2009: 185
Dass sich die Geschichte in Bezug auf Schemata und Gattungen im weiteren Verlauf als viel sperriger herausstellt, als zunächst angenommen, wird in der nächsten Episode, die beinahe komisch erscheint, noch deutlicher: Hans findet sich bald zwischen dem Gebirge und einem furchterregenden Riesen wieder. Der Leser erwartet nun sicherlich einen Riesenkampf, doch der Riese entpuppt sich als gutmütiger Geselle, der Hans hilft, den brennenden See zu überqueren und auch hier gibt sich der Autor große Mühe, das Wunderbare möglichst klein zu halten: „der tiefel ist lecht nit als wunderlich, / als man in macht.“ („der Teufel [hier wohl: der Riese] ist nicht so seltsam, wie man denkt“ KvbS, 2220f). Das Ende der Erzählung könnte höfischer kaum sein: In einem Turnier zeigt sich Hans als vorbildlicher Ritter, der das Turnier gewinnt und so seine Dame zurückerobern kann.
Insgesamt zeigt sich also: Die „Königin vom brennenden See“ ist tatsächlich, so paradox es ist, eine Feenerzählung ohne Feen: Zwar folgt sich dem Schema der gestörten Mahrtenehe und der märchenhaften Logik von diesem, sie verweigert sich dem Wundersame jedoch immer mehr zu Gunsten eine christlichen, höfischen und beinahe rationalen Erzählwelt, welche Minne und Tugend in den Fokus stellt und von Feen und Magie; besonders aber auch von großen Konflikten nichts wissen will. Selbst der Tabubruch ist ein Unfall in einem ganz und gar tugendhaften Setting. Trotzdem ist „Die Königin vom brennenden See“ gerade deshalb ein spannendes Beispiel für eine solche Erzählung, die eben gerade aufgrund dieser Anlegung es verdient hat, nicht nur als Beispiel für das Feenhafte aufgezählt zu werden.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
von Goethe, Johann Wolfgang: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 3: Dramatische Dichtungen I: Faust: Der Tragödie erster Teil. Der Tragödie zweiter Teil. Urfaust. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Runz. 17. überarbeitete Auflage. München: C.H. Beck 2012.
Sappler, Paul: Die Königin vom brennenden See. In: Wolfram-Studien IV (1977), S. 173–270.
Sekundärliteratur
Bildhauer, Bettina: Medieval Blood. Cardiff 2006 (Religion and culture in the middle ages).
Felder, Gudrun: Der Ritter in der Maultierhaut. Zu Motiven und zur Gattung der ‘Königin vom brennenden See‘. In: Christine Ackermann/Ulrich Barton (Hgg.): Texte zum Sprechen bringen. Philologie und Interpretation. Halle/Thübingen: 2009, S. 183–194.
Jahn, Bruno: Die Königin vom Brennenden See. In: Wolfgang Achnitz (Hg.): Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Band 5. Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen. Mit einführenden Essays von Mathias Herweg und Wolfgang Achnitz. Berlin [u.a.] 2013, Sp. 1706f.
Kjorveziroska, Mirna: Die Spitze einer Feenerzählung. Überlegungen zur ›Königin vom Brennenden See‹. In: BME 5 (2022). Online: https://doi.org/10.25619/BmE20225172.
Meyer, Matthias: Filling a Bath, Dropping into the Snow, Drunk through a Glass Straw. Transformations and Transfigurations of Blood in German Arthurian Romances. In: Bibliographical Bulletin of the International Arthurian Society 58 (2007). S. 399–424.
Röhrich, Lutz: Mahrtenehe: Die gestörte Mahrtenehe. In: Rolf Wilhelm Brednich [u.a.] (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Berlin, Boston 2016. Online: https://doi.org/10.1515/emo.9.009.
Schulz, Armin: Spaltungsphantasmen. Erzählen von der „gestörten Mahrtenehe“. In: Wolfram Studien XVIII (2004), S. 233–262.
