Kleine Einblicke in die Werwolf-Sage

Die Beziehung zwischen Mensch und Wolf ist seit jeher eine komplizierte: Einerseits waren Wölfe über Jahrhunderte besonders in düsteren Wäldern, wie Mitteleuropa sie kennt, eine echte Gefahr für Mensch und Vieh. Auf der anderen Seite ist uns der Wolf, besonders in seinem komplexen Sozialverhalten, auf eine gewisse Weise ähnlich. Kein Wunder, dass Wölfe immer wieder in allen möglichen Geschichten auftauchen: Sie werden in Fabeln betrogen, fressen Kinder in Märchen, sind in Mythen eine Gefahr für die Welt. Einen besonders berühmten und spannenden Fall bildet dabei der Werwolf.
Heute wollen wir uns auf seine Fährte begeben und versuchen, die ein oder andere Spur zu verfolgen:
- Von strafenden Göttern und magischen Verwandlungen
- Von Rittern, die Wölfen werden, und Hexerei
- Vom Vollmond und Silberkugeln
- Verwendete und weiterführende Literatur
Von strafenden Göttern und magischen Verwandlungen
Geschichten von Menschen, die zu Wölfen werden, sind uralt. Schon im sumerischen Gilgamesh-Epos (3. Jahrtausend v. Chr.) verwandelt die Göttin Ishtar einen Schäfer in einen Wolf. Auch der Göttervater Zeus kennt diesen Trick: In seinen Metamorphosen (ca. 1–8 n. Chr.) berichtet Ovid, dass dieser den König der Akadier, Lykaon, in einen Wolf verwandelt hätte, nachdem dieser ihm Menschenfleisch serviert habe, um seine Göttlichkeit zu prüfen:
Da entflieht er erschreckt. Als er Feldes Stille erreicht hat, heult er hinaus: zu reden versucht er umsonst. […] In gewohnter Begierde zu morden stürzt er sich unter das Vieh und schwelgt auch jetzt noch im Blute. Borsten ergibt das Gewand, zu Schenkeln werden die Arme. Wolf wird er so und bewahrt die Spur seiner alten Erscheinung: gleich ist des Haares Grau und gleich der grimmige Ausdrucke, ebenso stechend der Blick, das Bild von Wildheit das gleiche.
(Ovid: 234–39)
Weniger ausführlich erklärt, und weniger würdevoll, ist eine Geschichte aus dem Satyricon des Petronius (1. Jh. n. Chr.): Dieser berichtet von dem Sklaven Niceros, der einen Wolf dabei beobachtet, wie dieser auf seine Kleidung pinkelt. Als er den Wolf verletzt, flüchtet dieser. Niceros stellt am nächsten Tag fest, dass ein bekannter Soldat an eben der Stelle verletzt ist, an der er den Wolf getroffen hat.
In der Regel ist der Werwolf, anders als reale Wölfe, ein einsamer Jäger, ab und an finden sich jedoch auch Berichte von regelrechten Rudeln. So weiß der antike Historiker Herodot (5. Jh. v. Chr.) beispielsweise von den Neuri zu berichten, die sich einmal in Jahr in Wölfe verwandeln. Die meisten antiken Autoren sprechen in Bezug auf Werwölfe jedoch davon, dass die Götter Einzelpersonen für ihre Verbrechen bestrafen (oder selten: ihren Gunstlingen ein Geschenk) machen wollen. Diese Vorstellung soll sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter verändern…
Von Rittern, die Wölfen werden, und Hexerei
Waren es in der Antike noch Götter, welche die Menschen oftmals dazu verfluchten, zum Wolf zu werden, verwandelten sich die Werwölfe des Mittelalters nach eigenem Willen und Wissen:
Besonders die nordische Literatur des 13. Jahrhunderts kennte den Wolf nach wie vor als Antagonisten (beispielsweise in der Gestalt des berühmten Fenriswolf aus den isländischen Edden) und auch die Wolfsmenschen stehen hier in keinem guten Licht: Die Völsungen-Saga berichtet, dass eine Wölfin jede Nacht einen von König Völsungs Söhnen reißt, die von König Siggeir gefangen genommen wurden. Nur der Held Sigmund schafft es, die Wölfin zu überlisten: Auf Geheiß seiner Schwester schmiert er sich Honig um den Mund und als die Wölfin ihm diesen vom Gesicht leckt, beißt er ihr die Zunge ab und tötet sie so. Dazu heißt es:
Aber einige Leute erzählen, dass diese Wölfin König Siggeirs Mutter gewesen sei, und dass sie durch Hexerei und Zauberkunst diese Gestalt angenommen habe.
(Völsungen-Saga: 8, aus dem Englischen von der Verfasserin)
Diese „Werwolf-Episode“ ist insofern bemerkenswert, als dass sie in anderen Varianten der Nibelungen-Sage, beispielsweise in der Edda, fehlt.
Die Vorstellung, dass es Magie und Zauberkunst, vom Werwolf selbst und willentlich ausgeführt, ist, welche die Verwandlung bedingt, zeigt sich auch in anderen Teilen von Europa:
Marie de France berichtet in einer ihrer Lais schon im 12. Jahrhundert von dem Ritter Bisclavret (dessen Name passenderweise „Werwolf“ oder „Wolfmann“ bedeutet). Dieser verschwindet jede Woche für drei ganze Tage in der Wildnis und gesteht seiner Frau schließlich nach vielem guten Zusprechen:
Herrin, ich werde zum Werwolf. Ich gehe in jenen großen Wald, wo das Unterholz am dichtesten ist, und lebe dort von Beute und von Raub.
(Marie de France: 79)
Um wieder zum Menschen zu werden, muss er seine Kleidung anlegen. Als seine Frau diese stiehlt, muss der Edelmann zunächst ein Wolf bleiben.
Die umgekehrte Vorstellung, dass Gürtel aus Wolfsfell oder andere magische Kleidungsstücke die Verwandlung hervorrufen, ist weit verbreitet. In der frühen Neuzeit gehört sie zu den Anschuldigungen, die häufig in sogenannten Werwolfsprozessen vorgebracht werden: Besonders im 16. und 17. Jahrhundert werden (vermeintliche) Mörder häufig als Werwölfe angeklagt und ganz ähnlich wie vermeintliche Hexen als Gottesfeinde verurteilt. Diese Fälle traten erstmalig in Burgund auf, verbreitet sich aber im 16. Jahrhundert ins Rheinland und von dort aus in andere Teile Deutschland, Luxemburg und der Niederlande. Besonders berühmt ist der Fall des Peter Stump, der am 28. Oktober 1589 in Bedburg für schuldig befunden und anschließend hingerichtet wurde.
Ein besonders kurioser Fall des frühneuzeitlichen Werwolfglaubens bilden die Benandanti, eine Gruppe von Bauern aus Süd-Ostitalien, die im 16. Jahrhundert vor der Inquisition berichtet, sie würden des nachts im göttlichen Auftrag gegen Hexen kämpfen. Einige der Angeklagten bezeichneten sich dabei selbst als Werwölfe.
Auch einige Volkssagen, die meisten davon im 19. Jahrhundert aufgeschrieben, kennen Werwölfe. So wissen die Gebrüder Grimm beispielsweise in ihren „Deutschen Sagen“ (1816–1818) zu berichten, dass verschiedene Werwölfe, Männer und Frauen, besonders Vieh angegriffen hätten. Wie auch ältere Versionen der Geschichten erzählen, sind die Werwölfe auch hier an Kleidung gebunden:
Da hätte der dritte erst recht um sich gesehen, ob die andern auch schliefen, und als er solches geglaubt, auf einmal den Gürtel abgeworfen (oder, wie andere erzählen: einen Gürtel angelegt) und wäre ein Werwolf gewesen, doch sehe ein solcher Werwolf nicht ganz aus wie ein natürlicher Wolf, sondern etwas anders. Darauf wäre er weggelaufen zu einer nahen Wiese, wo gerade ein jung Füllen gegraset, das hätte er angefallen und gefressen mit Haut und Haar. hernach wäre er zurückgekommen, hätte den Gürtel wieder umgetan (abgelegt) und nun, wie vor, in menschlicher Gestalt dargelegen.
(Grimm: 243)
Auch in der populären Literatur des 19. Jahrhunderts taucht der Werwolf auf – und hier ist er häufig mit einem Teufelspakt verbunden. Wagner the Wehr-Wolf, der Protagonist einiger englischer Penny Dreadfuls, die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, schloss so beispielsweise einen Pakt mit dem Teufel, um sich alle sieben Jahre in einen Wolf zu verwandeln.
Was all diese Geschichten gemein haben? Noch ist der Werwolf nicht gezwungen, sich jeden Monat, abhängig vom Mond, zu verwandeln…
Vom Vollmond und Silberkugeln
Die Vorstellung, dass Silber gegen die Bestien helfen sollte, ist alt: Als im französischen Gévaudan zwischen den Jahren 1764 bis 1767 über 100 Personen von einer eigenartigen Kreatur getötet wurden, gelangte der Gastwirt Jean Chastel zur Überzeugung, es müsse sich um einen Werwolf handeln. Er lud daher sein Gewehr mit Silberkugeln, die er sogar in einer Kirche weihen ließ und machte sich damit auf die Jagd nach dem Biest.
Die Vorstellung, dass Werwölfe gequälte Seelen seien, die bei Vollmond dazu gezwungen würden, sich zu verwandeln, ist dagegen gar nicht so alt – zwar spielt der Mond in vielen Kulturen immer wieder eine wichtige Rolle, mit dem Wolf verbunden hat ihn aber in erster Linie der moderne Film.

Magazine illustration of Lon Chaney Jr. in makeup as The Wolf Man. From Horror Monsters, volume 1, number 1, page 2 (inside cover), aus der Wikimedia.
Entscheidend für die Entwicklung des Werwolfs ist beispielsweise „Der Wolfsmann“ (1941) des amerikanischen Regisseurs George Waggner, der sich nach Angaben der Drehbuchautoren besonders an Berichten aus Frankreich und Deutschland, aber auch an den antiken römischen Werken, orientierte. Dieser ist zwar nicht der erste Werwolffilm (1925 erschien beispielsweise „Wolf Blood: A Tale of the Forest“), brachte aber einige entscheidende Vorstellungen mit, die sich bis heute halten. Dazu gehört die Verwandlung bei Vollmond, aber auch die Vorstellung, ein von einem Werwolf gebissener Mensch würde sich selbst in einen Werwolf verwandeln.
Der moderne Werwolf zeichnet sich dadurch aus, dass er bei seiner Verwandlung nicht nur ein Wolfsfell anlegt, sondern auch eine wilde, animalische Persönlichkeit, die oft nur mit dem Wunsch nach Sex und Blut verbunden wird. „Anders als der Vampir, der Aristokrat unter den Kreaturen der Nacht, ist der Werwolf ihr Prolet“ (Brittnacher: 291).
Übrigens: Es ist kein Zufall, dass Werwölfe in modernen Horrorromanen so häufig mit Vampiren in Verbindung stehen. Tatsächlich ist diese Verbindung recht alt: Als sich im 18. Jahrhundert in Osteuropa der Vampirglaube entwickelte und in den Westen kam, da war er mit der Vorstellung von Werwölfen verbunden. So erzählte man sich beispielsweise, ein Werwolf, der sterbe, müsse aufgrund seines verfluchten Lebensweges als Untoter wiederkehren. Auch die frühen Vampirromane schienen diese Verbindung zu kennen: Bram Stokers Dracula ist so in der Lage, die Wölfe zu kontrollieren.
Heutzutage hat der Werwolf und seine enorme Symbolkraft aber nicht nur Auswirkungen auf die Fantasy- und Horrorliteratur und auf den Film, sondern wird auch politisch immer wieder missbraucht: Am 2. April 1945 wurde durch das NS-Regime die Bildung einer Untergrundarmee namens „Werwolf“ proklamiert, die bis zum „Endsieg“ weiterkämpfen sollte. Auch heute nach ist der Werwolf als Symbol für Gewalt, Tribe und eine Form von Männlichkeit in der rechtsextremen Szene verbreitet:
Das Werwolf-Motiv besitzt keinen direkten Bezug zur nordisch-germanischen Mythologie, selbst wenn dort der Fenriswolf ebenfalls eine angsteinflößende Rolle spielt. Vielmehr ist die Vorstellung vom Werwolf noch im Mittelalter im Volksglauben nur von untergeordneter Bedeutung. Denn es handelt sich wohl eher um eine der gelehrten Literatur in den breiten Volksglauben verbreitete Vorstellung. Dennoch passt sie durchaus in manche der Muster, die auch die Mythen für eine Adaption im Rechtsextremismus prädestinieren. Vor allem der Aspekt des Geheimnisvollen, verbunden mit der übermenschlichen Gefahr, macht es attraktiv, sich mit diesem Motiv zu identifizieren.
(Schuppner: 45-46)
Zum Glück ist das nicht die einzige Gestalt, in welcher der Werwolf heute auftritt: Er ist in der modernen Fantasy- und Horrorliteratur sowie in modernen Filmen weit verbreitet – und das in vielen verschiedenen Varianten.
Der Werwolf zeigt sich, wie nur sin kurzer Überblick über seine Geschichte zeigt, in vielen Gestalten. Auch heute noch tummeln sich auf der Kinoleinwand und zwischen den Deckeln von Büchern allerlei Varianten. So gibt es die blutrünstigen Bestien, die gegen ihren Willen die Herzen ihrer Opfer verspeisen (beispielsweise in der Serie Supernatural) in der Pop-Kultur genauso wie die pelziger Liebhaber, welche den nun ebenfalls als attraktiv betrachteten Vampiren Konkurrenz machen (beispielsweise in der Twilight-Reihe) – es ist besonders die eng mit ihm verbundene Symbolik von Stärke und Männlichkeit, welche Werwölfe zu beliebten Figuren in Romantik- und Erotikromanen machen. Daneben gibt es jedoch auch immer wieder Parodien auf die Werwolf-Sage, beispielsweise in Terry Prachetts Scheibenweltromanen, in denen es es „Wermenschen“ gibt, Wölfe, die darunter leidet, sich einmal im Monat in einen Menschen verwandeln zu müssen.
Schon dieser kurze Blick in seine Geschichte zeigt: Der Werwolf hat erstaunlich viele Gestalten.
Vielleicht ist es seine ewige Wandelbarkeit, die den Werwolf über eine so lange Zeit hinweg in den Erzählungen der Welt gehalten hat – und wir können uns bestimmt darauf freuen, was in der Zukunft dazu kommen wird.
Hier geht’s zum Weiterforschen
Verwendete und weiterführende Literatur
Grimm, Jakob und Wilhelm: Deutsche Sagen. Frankfurt a.M. 2010.
Marie de France: Bisclavret. In: Dies.: Lais. Altfranzösisch/Deutsch. herausgegeben von Philipp Jeserich. Stuttgart 2015.
Ovid: Metamorphosen. Übersetzt und herausgegeben von Erich Rösch, München/Zürich 1983.
Titus Petronius Arbiter: Satyricon. Ein römischer Schelmenroman. Übersetzt und erläutert von Harry C. Schnur. Stuttgart 1968.
Volsunga-Saga. The Saga of the Völsungs. Übersetzt und herausgegeben von R. G. Finch. London 1965 [die Übersetzung aus dem Englischen stammt von der Verfasserin].
Bittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a.M. 1994.
Blécourt, Willem de: Wolfsmenschen. In: Rolf Wilhelm Brednich [u.a.] (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Berlin, Boston 2016. (Online). Letzter Zugriff: 22.10.2024.
Deichl, Florian. Die Welt der Völsungen: Figuren- und Weltentwurf der altnordischen Nibelungendichtung. Berlin, Boston 2019.
Geisenhanslüke, Achim: Wolfsmänner. Bielefeld 2018 (Literalität und Liminalität Bd. 22).
Ginzburg, Carlo: The Night Battles: Witchcraft and Agrarian Cults in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. tranlated by John and Anne C. Tedeschi. Baltimore 2013.
Schuppener, Georg: Sprache und germanischer Mythos in Rechtsextremismus. Leipzig 2017.
