Dieser Artikel ist der zweite Teil einer Reihe. Den ersten findet du hier.
2. Spur: Wunder, Mitleid und gefallene Engel: der Gral auf Munschalvaesche bei Wolfram von Eschenbach
„[…] Der Reiz des Grals liegt in seiner Unfassbarkeit.“ Marie Chauvel schaute zur Kapelle hinauf. „Für manche ist der Gral ein Kelch, der ewiges Leben verspricht. Für andere bedeutet er die Suche nach verlorenen Dokumenten und nach einem Geheimnis der Geschichte. Und für die meisten ist der Gral lediglich eine faszinierende Idee, wie ich vermute … ein wundervoller, phantastischer, aber unerreichbarer Schatz, der uns sogar in der heutigen modernen, chaotischen Welt noch zu inspirieren vermag.“
Sakrileg, S. 596
Unklarheiten und Brüche in Bezug auf den Gral, setzen sich in dem wohl berühmtesten deutschen, wenn nicht dem überhaupt berühmtesten, Gralsroman fort: in Wolframs von Eschenbach Parzival (um 1200). In (vermutlich) direkter Anlehnung an Chrétien macht Wolfram den Gral zum Teil einer ding- und figurenüberladenen, komplexen Erzählwelt, durch die er seinen Protagonisten wandern lässt. Zunächst ist Parzival dabei nicht auf der Suche nach dem Heiligen Gral: Wie bei Chrétien findet er ihn zunächst durch Zufall, stellt die erlösende Frage auf der Gralsburg jedoch nicht und irrt daraufhin durch die Welt, ein verzweifelter Versuch, seinen Fehler wiedergutzumachen. In der germanistischen Forschung der 50er und 60er Jahre wurde oftmals versucht, eben dieser Weg Parzivals mit einer Deutung des gesamten Werkes zu verschmelzen, die moderne Forschung lehnt dies aber, wie wir sehen werden, aus guten Gründen, weitgehend ab. Es sei trotzdem darauf hingewiesen, dass der Gral wohl zu besterforschtesten Elementen der umfassenden Parzival-Forschung gehört, weshalb hier nur ein kleiner Einblick in all die faszinierenden Theorien rund um den Gral gegeben werden kann.
Auf seiner Suche nach dem Gral trifft Parzival auf seinen Onkel Trevrizent, der ihm die verholnen maere umbe den grâl, die Geheimnisse rund um den Gral, offenbaren soll, wie der Erzähler bemerkt. Parzival erfährt, dass es sich um einen Stein mit dem Namen „Lapsit exillis“ (die Handschriften kennen Varianten der Schreibweise, nach Nellmann werden diese jedoch als wenig relevant ausgeklammert), wahrscheinlich entweder eine falsche Schreibung von „lapis exilis“ (=unscheinbarer Stein) oder ein pseudolateinischer Fantasiename Wolframs, handelt. Dieser ist mit einigen wundersamen Eigenschaften ausgestattet: Die Kraft, Speisen und Getränke zu erschaffen sowie seinen Trägern ewige Jugend zu verleihen, das Wunder, dass er in den Händen der Keuschen leicht und in denen der Unkeuschen schwer sind, gehören neben anderen dazu. Warum der Gral ein Stein, also ein ohne seine wundersamen Eigenschaften nutzloser Gegenstand, ist, bleibt rätselhaft: Zwar wurden immer wieder vermeintliche Vorgänger ausgemacht, dazu gehören besonders orientalische Wundersteine, wie den der Alexandersage, der ebenfalls für reine Menschen leichter ist, wie der Gral, der sich nur von der keuschen Jungfrau Repanse De Schoye tragen lässt. Ein genauer Vorgänger lässt sich aber nicht ausmachen. Nur wer dazu auserwählt ist, kann bei Wolfram den Gral, der von einer durch strenge Regeln limitierte Gesellschaft bewacht wird, erreichen und nur wer getauft ist, kann ihn sehen. Der Gral erleuchtet zudem den ewigen Feuervogel Phönix, im Mittelalter eine mögliche Anspielung auf Jesus.
er heizet lapsit exillîs. / von des steines kraft der fênîs / verbrinnet, daz er zaschen wirt: / […] / ouch wart nie menschen sô wê, / swelhes tages ez den stein gesiht, / die wochen mac ez sterben niht, / diu aller schierst dar nâch gestêt. / sîn varwe im nimmer ouch zergêt: / […] / selhe kraft dem menschen gît der stein, / daz im fleisch unde bein / jugent enpfæht al sunder twâl.
Er [der Wunderstein/Gral] heißt Lapsit exillis. Die Wunderkraft des Steines läßt den Phönix zu Asche verbrennen, aus der er zu neuem Leben hervorgeht. […] Erblickt ein todkranker Mensch diesen Stein, dann kann ihm in den folgenden Wochen der Tod nichts anheben. Er altert auch nicht, sondern sein Leib bleibt wie zu der Zeit, da er den Stein erblickt. […] der Stein verleiht den Menschen solche Lebenskraft, daß der Körper seine Jugendfrische bewahrt.
Pz. 469, 7–27, übersetzt von Wolfgang Spiewok
Im ersten Moment klingt dies nach einem wunderbar eindeutigen Kriterienkatalog eines Dings, in Bezug auf dessen Beschreibung keinerlei Zweifel bestehen. Gedeutet als „Opposition Wolframs gegen das Rätselhafte bei Chrestien“ (Knapp: 63) wird dies als Strategie Wolframs gedeutet, den Stein zu „entzaubern“. Aber Wolfram wäre nicht Wolfram, wenn er nicht das eigene Erzählen infrage stellen würde: Nicht nur erfahren wir die meisten konkreten Eigenschaften des Grals allein von Trevrizent, auch bleiben uns einige wichtige Informationen vorbehalten: Anders als bei Chrétien fehlt eine konkrete Beschreibung des Grals. Auf der Gralsburg mit dem Namen Munsalvaesche beschreiben Parzival und der Erzähler den dargestellten Luxus und die Trägerin des Grals mehr als den wundersamen Gegenstand, der auf ein dinc, daz hiez der Grâl, ein Ding mit Namen Gral, reduziert wird. Abgesehen von der Beschreibung Trevrizents, die aber auch nichts über Größe und Farbe des Grals verrät, bleibt der Leser so blind, wie die Ungetauften, denen sich der Gral nicht offenbart. Was stattdessen neben seinen Wundern im Fokus steht, ist die Fähigkeit des Grals, zwischen Gott und den Menschen zu vermitteln, wie er es schon bei Robert De Boron getan hat. Jeden Karfreitag bringt eine Taube eine Oblate vom Himmel, die dem Gral seine besonderen Fähigkeiten verleiht. Das Wappen der Gralsgesellschaft ist daher eine Taube. Zudem verkündet eine geheimnisvolle Schrift auf dem Gral, wer zu ihm berufen ist, eine Schrift, die verschwindet, sobald sie gelesen wurde. Sie verkündet der Gralsgesellschaft nicht nur die Verhaltensregeln im Umgang mit Parzival (sie dürften ihm nicht konkret auf die Frage hinweisen), sondern verkündet am Ende des Romans auch, dass Parzival zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern erneut zum Gral berufen ist.
Eine Schrift, die so flüchtig ist wie das mündliche Wort, findet sich weder bei Chrétien, der den Gral nicht über die Auserwählten sprechen lässt, noch bei Robert, bei dem es Jesus selbst, mit Worten, nicht mit der Schrift ist, der Joseph offenbart, wer den Gral bewachen soll. Stattdessen erinnert diese geheimnisvolle Schrift, die den Willen Gottes verkündet, an andere Motive aus Legenden und der Bibel: In der Legenda Aurea des Jacobus von Voragine (1226–1298), die wohl bedeutendste Sammlung von Legenden aus dem Mittelalter, wird von einem Brief Jesu berichtet, der eine enorme Wirkung auf seine Empfänger hatte (im Spätmittelalter taucht das Motiv sogenannter „Himmelbriefe“ häufiger auf). Aus dem Alten Testament kennen wir die Gesetzestafeln Moses, auf denen Gott schriftlich mit den Isrealiten verkehrt sowie das Mene-Tekel im Buch Daniel, eine geheimnisvolle Schrift, die an einer Wand erscheint und Unglück verkündet.
Göttlich und mysteriös ist auch die Art und Weise, wie Wolfram angeblich von dem Gral erfahren hat: Er nennt nicht Chrétien als Hauptquelle, sondern erzählt, er habe die Geschichte von einem gewissen Kyot, der sie wiederum von dem „heiden“ Flegetanis, der die Geschichte vom Gral in den Sternen gelesen hat, haben soll. Hier soll Flegetanis erfahren haben, dass die Engel, die bei der Rebellion Luzifers gegen Gott neutral geblieben wären, auf die Erde verbannt wurden, um den Gral zu hüten. Der Gral bekommt somit eine neue Biographie, die sich von der Legende aus dem Nikodemus-Evengelium und bei Robert klar unterscheidet. Woher Wolfram diese Geschichte hat, ist nicht geklärt; die Existenz eines echten Kyot erscheint unwahrscheinlich, wenn es auch Diskurs darüber gibt, welche „echten“ französischen Romane Wolfram tatsächlich zur Verfügung standen.
Der Gral und seine göttlichen Botschaften bestimmten das Leben der Gesellschaft auf Munschalvesche, der Gralsburg. Keiner von ihnen darf innerhalb der Burg heiraten, Frauen werden, wenn sie heiraten sollen, heimlich hinausgeschickt, Männer in einer öffentlichen Zeremonie entlassen. Eine Ausnahme bildet der Gralskönig, der aus der Linie des Titurel stammt und zu dem Zeitpunkt der Geschichte Anfortas heißt. Der Gralskönig darf aber nur heiraten, wen der Gral für ihn auserwählt hat. Weil Anfortas sich nicht daran gehalten hat und in den Minnekampf für eine andere Dame gezogen ist, wurde er verletzt und ist nun auf die erlösende Frage Parzivals angewiesen. Dieses Motiv finden wir auch bei Chrétien, bei diesem soll Perceval jedoch nach der Natur von Lanze und Gral fragen. Wolfram stellt diese Frage zu einer Mitleidsfrage um. Parzival soll fragen: „herre, wie stet iuwer not?„, „König, was fehlt Euch?“ Da er aber zuvor die Lektion gelernt hat, keine Fragen zu stellen, bleibt die Frage aus und die Gesellschaft scheint, mit einem verletzten König, der in der Gegenwart des Grals nicht sterben kann, verloren.
Erst im letzten Buch des Romans schafft es Parzival diesen Fehler wiedergutzumache, wenn auch in einer etwas abweichenden Formulierung: „œheim, waz wirret dier?„, „Onkel, was fehlt dir?“, fragt er und erlöst die Gesellschaft somit nicht zuletzt mit einer Erinnerung daran, dass er, über seine Mutter, mit dem Gralkönig verwandt ist. Deshalb kann er auch seinen Nachfolger stellen.
Die Gralsburg kann bei Wolfram nicht von denen gefunden werden, die sie suchen, sondern nur von denen, die eben dies nicht tun. Ebenfalls eine Schwierigkeit, die Gralsburg zu erreichen, stellen die Gralsritter dar, welche, anders als die berühmten Arthusritter, keine Gefangenen machen, sondern ihre Gegner im Kampf töten. Aufgrund ihres Namen, templare, wurde vielerorts vermutet, Wolfram habe sich von den berühmten Tempelrittern inspirieren lassen, wobei jedoch nicht der Schluss gezogen werden kann, die Gralsritter seien mit diesen identisch und in den Schätzen der Templer lasse sich ein echter Gral finden (auch wenn diese Annahme sicherlich einige spannende Schatzsuchen inspirierte!).
Insgesamt zeigt sich, dass Wolfram den Gral nicht einfach von seinen Vorgängern übernimmt, sondern das Motiv in seine eigene Erzählwelt einbaut, anpasst, verkompliziert und verrätselt – sowohl für Parzival als auch für die Leser. Damit offenbart sich etwas Grundsätzliches über das mittelalterliche Erzählen, aber auch darüber, wie Mythen, Legenden, Sagen entstehen. Das Mittelalter schätzte dichterische Neuschöpfungen nicht wert, es war ausdrücklich erwünscht, alte Geschichte in einem neuen Gewand zu schreiben. Trotzdem können wir für die deutsche Literatur nicht einfach nur einer Übersetzung der französischen Romane sprechen, sondern sehen immer eine dichterische Eigenleistung, die kaum abgesprochen werden kann. Selbiges gilt auch für Mythen, Legenden und Sagen: All diese Geschichten entwickeln sich mit jedem Dichter, der sie neu erzählt, weiter, werden komplizierter und bunter. Und weil sich für den Gral noch viel mehr Dichter, auf der ganzen Welt, bis in die heutige Zeit interessieren, werden wir einigen seiner Facetten auf unsere Reise durch das Reich der Fantasie sicher wieder begegnen…
Hier geht’s zum Weiterforschen
Verwendete und weiterführende Literatur
Brown, Dan: Sakrileg. Bergisch Gladbach 2004.
Die Bibel. Die Heilige Schrift des alten und neuen Bundes. Vollständige deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel, hg. von Diego Arenhoevel [u.a.]. Freiburg in Breisgau 1965.
Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzt und mit einem Nachtwort versehen von Wolfgang Spiewok. Band 1 und 2. Ditzingen 2019.
Bumke, Joachim. Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart 2004.
Egeler, Matthias: Der Heilige Gral. Geschichte und Legende. München 2019.
Ernst, Ulrich: Wolframs Gral und der Schatz der Templer. Theokratie, Heterotopie und Imagologie im Parzival. In: Matthias Däumer [u.a.] (Hrsg.): Artushof und Artusliteratur. Berlin/New York 2010. S. 191–213 (Schriften der internationalen Artusgesellschaft Bd. 7).
Groos, Arthur: Romancing the Grail: Genre, Science, and Quest in Wolfram’s „Parzival“. Ithaca, NY 1995.
Knapp, Fritz Peter: Der Gral zwischen Märchen und Legende. In: Beiträge Zur Geschichte Der Deutschen Sprache Und Literatur (Tübingen) 118.1 (1996), S. 49–68.
Mertens, Volker: Der Gral. Mythos und Literatur. Stuttgart 2003.
Murphy, G. Ronald: Gemstone of Paradise. The Holy Grail in Wolfram’s Parzival. Oxfort 2006.
Nellmann, Eberhard. „Lapsit Exillis? Jaspis Exillix?: Die Lesarten Der Handschriften.“ In: Zeitschrift Für Deutsche Philologie 119.3 (2000), S. 416.
Schreiner, Klaus. „Göttliche Schreib-Kunst.“ Frühmittelalterliche Studien 36, no. 1 (2002), S. 95–132.
Stolz, Michael: Wolfram von Eschenbach’s Parzival: Searching for the Grail. In: Handbook of Arthurian Romance: King Arthur’s Court in Medieval European Literatur. Berlin/New York 2017. S. 443–459.
