Auf Grimms Spuren…

Mythen, Märchen, Fantastisches


Die ewige Suche nach dem Heiligen Gral I

Der Heilige Gral ist der größte Schatz des Abendlandes, der nie gefunden wurde. Seit dem 12. Jahrhundert ranken sich Mythen und Legenden um ihn und bis heute hat er nichts von seiner Faszination eingebüßt. Ob in Wagners Oper, auf der großen Kinoleinwand; ob als Kelch mit heilenden Kräften oder als heilige Blutlinie: Bis heute begeben sich reale und fiktive Schatzsucher auf die Jagd nach ganz verschiedenen Formen des Heiligen Grals. Über 200 Reliquie, über ganz Europa verstreut, behaupten von sich der Heilige Gral zu sein – ohne von der Kirche direkt anerkannt zu werden. Der Heilige Gral ist ein unbegreifliches Faszinosum, was in vielen verschiedenen Gewändern und Geschichten auftritt, auch modernen Filmen und Büchern wie Monty Pythons Ritter, Dan Browns Rätsel-Löser oder der berühmte Indiana Jones beweisen.

Schon die Frage danach, was ein „Gral“ sein soll, kann Bücher füllen – und hat es in der Vergangenheit oft genug getan. Alle Geschichten aufzuzählen, die sich um den Heiligen Gral ranken, ist unmöglich, besonders im Rahmen eines kleinen Blogbeitrags. Daher sollen hier nur Einblicke in ein riesiges Feld gegeben werden und in zwei Beiträgen ersten Spuren rund um die (französischen?) Ursprünge des Grals und einer seiner mittelhochdeutschen Ausprägungen, Wolframs von Eschenbach Parzival (um 1200), nachgegangen werden. Die Möglichkeit für viele weitere Einträge bleibt offen …

Und damit begeben wir uns auf Schatzsuche.

1. Spur: Chrétien De Troyes und Robert De Boron (er-)finden den Gral

Das Wort „Gra(a)l“ taucht erstmalig bei dem altfranzösischen Autor Chrétien De Troyes in seinem letzten, Fragment gebliebenen Roman Percevax ou Li Contes del Graal (um 1180/90) auf. Wahrscheinlich leitet Chrétien den Begriff von dem lateinisch/spätlateinischen „gradele/gradalis“ („Speiseteller/große Schüssel“) ab. Eindeutigkeit besteht darüber aber keineswegs: Schon Chrétiens Zeitgenosse Robert De Boron, dem wir später noch einmal begegnen werden, führt das Wort vielmehr mit dem altfranzösischen „ageere“ („gefallen/glücklich sein“) eng. Gekoppelt ist der Gral schon bei Chrétien an das Sagengut rund um König Arthur und seine berühmten Ritter der Tafelrunde. Die ursprünglich keltische Geschichte von diesem wurden im hohen Mittelalter von französischen Autoren, Chrétien De Troyes ist hier prominentestes Beispiel, verschriftlicht und Adaptionen ihrer Werke verbreiteten sich über ganz Europa („adapation courtoise“ nennt man den Vorgang). Natürlich stellen sich begeisterte Schatzsucher schnell die Frage, ob Chrétien nicht eine ältere keltische Vorlage hatte. Wie alle Fragen rund um den Heiligen Gral ist auch diese nicht einfach zu beantworten: Zwar finden sich keltische Einflüsse in der Geschichte und einige keltische Schriftsteller schrieben ihre eigene Variante der Gralsgeschichte, wie den walisischen Peredur (zwar gibt es Theorien dazu, diese Geschichte sei älter, tatsächlich verschriftlicht wurde sie aber erst im 14. bis 15. Jahrhundert), eine keltische Erzählung vom Gral, die älter als Chrétien ist, finden wir trotzdem nicht; wenn es eine solche gab, dann ist sie den Jahrhunderten zum Opfer gefallen.

Nach einer kurzen Zeit der Stille, siehe, da traten zwei Jungfrauen ein, die eine große Schale (trugen), auf der sich der Kopf eines Mannes und ringsrum Blut in Mengen befand. Und dann stimmte jeder ein solches Wehgeschrei und Klagen an, daß es schwer war, es mit ihnen unter einem Dach auszuhalten, und zuletzt schwiegen sie.

Peredur, S. 123

Auch wenn wir in der keltischen Literatur vor Chrétien keinen echten Gral finden, so können wir uns trotzdem über magische Gegenstände freuen, die möglicherweise zur Entstehung der Gralssage beigetragen haben. Beispiele dafür sind heilige Kessel, die Wunder vollbringen können und in Texten wie dem walisischen Preddeu Anrwun nicht nur auftreten, sondern auch von König Arthus und seine Ritter gesucht werden. Mit aller Ernsthaftigkeit können wir die Anfänge des Grals trotzdem erst bei Chrétien annehmen, der den Gral mit der Geschichte seines Helden Perceval kurzschließt und hier, neben keltischen Elementen, auch Erzählmuster von Legenden (von Büßern), historischen Schriften sowie Leitschriften für gute Ritter (wie Bernhards von Clairveaux De laude novae militiae) einfließen lässt.

Chrétiens Held, Perceval, wird von seiner Mutter außerhalb der ritterlichen Welt erzogen. Er beschließt später, Artusritter zu werden, und wird tatsächlich Teil der Tafelrunde. Auf einem seiner nun folgenden Abenteuer findet er eine Wunderburg, wo er in der Nacht eine eigenartige Prozession beobachtet. Unter anderem wird eine blutige Lanze und ein Gral vor ihn geführt, gefolgt vom Wehklagen der ganzen Burggesellschaft. Perceval erinnert sich an den Rat einer seiner Erzieher und stellt keine Fragen zu dem eigenartigen Geschehen. Als er am nächsten Morgen erwacht, ist die Burg wie ausgestorben.

Mit ihnen kam ein holdes, anmutiges Fräulein, prächtig geschmückt. In ihren beiden Händen trug sie einen Gral. Als sie mit diesem in die Halle getreten war, da verbreitete sich dort eine so strahlende  Helligkeit, daß die Kerzen ihren Glanz verloren, ebenso wie die Sterne oder der Mond tun, wenn sich die Sonne erhebt. Ihr folgte ein Mädchen mit einer silbernen Platte. Aus purem, lauterem Gold war der Gral, der vorauszog. Mit vielerlei Edelsteinen war er übersät; (sie zählten) zu den kostbarsten und wertvollsten, die Meer und Erde freigeben; zweifellos übertrafen sie alle anderen

Chrétien, 3219-3239

Kurz darauf erfährt der Held, dass er nach der Natur des Grals und Lanze hätte fragen sollen, um den verwundeten König der Burg, seinen Onkel, zu erlösen und sein Nachfolger als Gralskönig zu werden. Verzweifelt sucht Perceval nun die Burg, um seinen Fehler zu beheben – ohne Erfolg. Chrétiens Text bricht ab, ohne dass der Held seine Aufgabe erfüllen kann, erst in den Fortsetzungen schafft es Perceval, den Weg zur Gralsburg zu finden und die erlösende Frage zu stellen. Der Gral rückt bei Chrétien in den Hintergrund; viel wichtiger ist dem Autor die Entwicklung seines Helden, sein Versagen und sein Weg zur Buße. In diesem Zusammenhang spricht Chrétien auch nicht von einem bestimmten, heiligen Gral, sondern zunächst nur von einem Gral unter vielem, der nicht einmal in der Geschichte selbst eine Sonderstellung hat: Während Perceval verzweifelt den Gral sucht, begibt sich der zweite Held der Geschichte, Gauwain, auf die Suche nach der Lanze, die dem Gral gleichgesetzt wird. Zwei prominente Ritter rund um den Gral haben wir damit bereits kennengelernt: In der Gralsliteratur, die bis in das 14. Jahrhundert ihre Früchte im ganzen mittelalterlichen Europa trug, ist nicht immer nur Perceval derjenige, der den Gral finden und die Gesellschaft erlösen soll. Andere mögliche Kandidaten sind der besagte Gawan (z.B. in Heinrichs von Türlin Die Krone), Lancelot (z.B. im Vulgata-Zyklus) oder dessen Sohn Galahad (z.B. in Thomas Malorys König Arthus und die Ritter der Tafelrunde).

Was genau ist der Gral nun bei Chrétien?

Der Autor gibt eine kurze Beschreibung: Der Gral tritt als reich mit Edelsteinen verzierte Schale auf, die den Gralskönig am Leben erhält und die Gralsgesellschaft mit Speisen versorgt. Seine wundersamen Fähigkeiten erhält er von einer himmlischen Hostie, die in ihm aufbewahrt wird. Woher der Gral aber kommt, das bleibt unklar. Auch die Handschriften halten sich in der Darstellung zurück: Nur in zweien wird er während der Prozession gezeigt und beide sind christlich überformt: In ihren Bildern wird der Gral ein liturgischer Kelch – Chrétien schreibt nichts dergleichen, zumindest nicht explizit. Ein christlicher Unterton schwingt bei ihm trotzdem nicht nur mit der Hostie mit, sondern auch mit dem Hintergrund, dass Chrétiens Auftraggeber, Phillip von Flandern, aus dem Zweiten Kreuzzug eine Blutreliquie mitbrachte, der ganz ähnliche Eigenschaften zugesprochen wurden wie dem Gral. Dass die Verbindung des Grals mit einer Blutreliquie keineswegs willkürlich ist, wird noch deutlicher, wenn wir den Blick auf einen anderen wichtigen Autor der frühen Gralsliteratur werfen: Robert De Boron.

Eiligst lief er [Joseph von Arimathäa] hinweg, holte sein Gefäß und stellte es an den Ort, wo das Blut [Jesu] strömte; denn er war sicher in seiner Meinung, daß die Tropfen, die in das Gefäß liefen, besser aufbewahrt seien als an jedem anderen Orte, wohin er sie bringen könnte, und mochte er sich noch so sehr darum bemühen. […] So war nun das Blut ganz aufgefangen und in dem Gefäße gesammelt.

Die Geschichte des Heiligen Grals, S. 19f.

Robert schrieb seinen Zyklus rund um den Heiligen Gral knapp 30 Jahre nach Chrétien und erweiterte die Geschichte des Heiligen Grals dabei enorm. So beginnt sein Werk nicht mit der Geburt des Helden Perceval, sondern mit der Geburtsstunde des Heiligen Dings in Jerusalem. Der Gral wird zu dem Kelch, aus dem Jesus beim Abendmahl trank und erhält weitere wundersame Eigenschaften dadurch, dass Joseph von Arimathäa, eine biblische Gestalt, unter dem Kreuz das Blut Jesu damit auffängt. Der Gral wird wird von Joseph an seinen Sohn Bron weitergegeben, der damit in das Abendland fährt und die Gralsgesellschaft, die bei Chrétien auf der Wunderburg lebt, begründet. Dem göttlichen Plan nach soll Bron den Gral wiederum an seinen Enkel weitergeben.

„So will es Gott und plant er es, daß Bron Dein gefäß bekommt und nach Dir hüten soll. Unterweise ihn, wie er sich halten und führen muß und zeige ihm die Liebe die Du zu mir [Jesus] hast und die ich zu Dir bisher gehabt. […] Sobald Bron Dein Gefäß in die Hand bekommen und es tragen wird, muß er geradewegs nach dem Abendlande hinauswandern, bis zu dem Orte, den sein Wille bestimmt und wohin das Herz ihn am stärksten zieht. Und sobald er dort, wo er wohnen will, Halt gemacht hat, soll er den Sohn des Sohnes in Zuversicht und ohne Gefahr erwarten. Und wenn dieser Sohn gekommen ist, soll ihm das Gefäß übergeben werden und auch die Gnade, und Du sollst Bron in meinem Namen sagen und anbefehlen, er solle es seinem Enkel ans Herz legen, auf daß er es von da an hüte.“

Die Geschichte des Heiligen Grals, S. 75f

Robert schrieb diesen Zyklus nicht zu Ende: Aus seiner Feder stammt nur der erste Teil rund um Joseph von Arimathäa und Teile des zweiten Teils, der von dem berühmten Zauberer Merlin handelt und die Artusgesellschaft in die Geschichte einbringt. Erst seine Prosafortsetzer, allen voran der sogenannte Didot-Perceval, lassen den eigentlichen Gralsritter ins Licht treten und erzählen von der Erlösung der Gralsgesellschaft. Dementsprechend ist Chrétien nicht die Hauptquelle von Robert; vielmehr hangelt sich dieser an der Bibel sowie am apokryphen Nikodemusevangelium aus dem 5. Jahrhundert entlang. Ebenfalls nicht auszuschließen ist, besonders für den zweiten Teil rund um Merlin, der Einfluss historischer Werken wie die Historie der Britannie von Geoffrey von Monmouth, ein grundsätzlich bedeutsames Werk für die Entwicklung der gesamten Arthusliteratur.

Der Gral wird bei Robert zum betont heiligen Relikt, das Joseph im Kerker am Leben hält und mit anderen heiligen Dingen, wie dem Schweißtuch der Veronika, enggeführt wird. So wird der Gral bei Robert nicht nur zum eigentlichen Protagonisten der Geschichte, Perceval rückt deutlich in den Hintergrund, sondern auch zum christlichen Symbol par excellence: zum Medium für das Blut Christi, was die Menschheit erlösen soll. Die Verbindung zu Eucharistie werden damit verstärkt. Jesus selbst erklärt, was es mit dem Gral auf sich hat und macht aus einer veissel, einem Gefäß, einen calices, einen Kelch. Trotzdem bleibt die genaue Natur des Grals bei Robert unklar: Obwohl er in Bezug auf dessen Biographie und seinen wunderbaren Eigenschaften deutlich ausführlicher wird als Chrétien, ist er in Bezug auf die materielle Natur auffallend still.

Damit deutet sich ein Trend an, der uns bis in die Moderne, aber besonders auch bei Wolfram von Eschenbach begleiten wird: Die Natur des Grals ist nicht zuletzt an seine Rätselhaftigkeit gebunden.

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Verwendete und weiterführende Literatur

Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Übersetzt und herausausgegeben von Felicitas Olef-Krafft. Stuttgart 2009.

Die Geschichte von Peredur, dem Sohne des Evrawc. In: Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur. Aus dem Mittelkyrmischen übersetzt, mit Einführungen, Erläuterungen und Anmerkungen versehen von Helmut Birkham. Kettwig 1989. S. 108–176.

Robert De Boron: Die Geschichte des Heiligen Gral. Übersetzt und herausgegeben von Konrad Sandkühler. Stuttgart 1998.

Robert De Boron: Merlin – Der Künder des Grals. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Konrad Sandkühler. Stuttgart 2000.

Achnitz, Wolfgang: Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters. Eine Einführung. Berlin/Boston  2012.

Baumgartner, Emmanuèle: Gra(a)l, -sdichtung. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 10. Stuttgart 1999. S. 855–857 (Online in: Brepolis Medieval Encyclopaedias – Lexikon des Mittelalters Online. Letzter Zugriff: 13.06.2023).

Egeler, Matthias: Der Heilige Gral. Geschichte und Legende. München 2019.

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