Dieser Artikel ist Teil einer Reihe. Den ersten Teil findest du hier, den zweiten Teil hier.
Vom Genfer See bis Dublin: Der romantische Vampir zwischen dem blutsaugenden Monster und dem tragischen Helden
Das Jahr 1816 bildet einen Wendepunkt für die moderne Vampirgeschichte, für die ganze moderne Horrorliteratur. Nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora im April 1815 auf Indonesien ist der Sommer 1816 düster, geprägt von ungewöhnlichen Kälteeinbrüchen und Schnee sowie schweren Unwettern. „Das Jahr ohne Sommer“, nennt der Klimatologie William Humphrey, der eine Verbindung zwischen dem ungewöhnlichen Wetter und dem Vulkan vermutet, das Jahr beinahe hundert Jahre später.
Dunkelheit und Kälte bilden den perfekten Nährboden für gruselige Geschichten:
In eben diesem dunklen Sommer versammeln sich Percy Shelley, seine spätere Frau Mary Godwin, Lord Byron und der Arzt John Polidori am Genfer See, um einige Tage in einer Villa zu verbringen. Eben die düsteren Geschichten, von Gespenstern und untoten Bräute, die wir in den letzten Artikeln bereits kennengelernt haben, werden schnell zum Zeitvertreib der dichterischen Freunde:
Einige vom Deutschen ins Französische übersetzte Bände Gespenstergeschichten fielen uns in die Hände. Da gab es die „Geschichte vom treulosen Liebhaber“, der sich, als er die Braut, der er Treue geschworen hat, zu umarmen glaubt, in den blassen Geisterarmen der Frau findet, die er im Stich gelassen hat. […] „Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben“, sagte Lord Byron, und sein Vorschlag wurde angenommen.
Shelley, S. 9.
Es wird schnell ein Spiel daraus, Abend um Abend gruselige Geschichten zu erzählen. Mary Shelley wird aus den Fragmenten ihrer Geschichte später den weltberühmten Roman Frankenstein (1818) schreiben, ganz still und heimlich schleicht sich aber auch der Vampir ein: Lord Byron schreibt fragmentarisch die Geschichte von Augustus Darvells nieder, der unter seltsamen Vorzeichen stirbt und als Vampir zurückkehrt. Später wird daraus Polidoris Erzählung Der Vampyr (1816), in der wir in der Gestalt des Lord Ruthven zum ersten Mal prominent den Vampir als einen männlichen Aristokraten, der sich die Liebe einer jungen Frau erschleicht, in Analogie zum aus dem Grab steigenden Bräutigam finden. Gleichzeitig bleibt das tatsächlich Vampirische zunächst wage:
Lord Ruthven war der erste, der ihn bemerkte; er trat sogleich zu jenem hin, ergriff, ihn heftig beim Arme und riß ihn, sprachlos vor Wut, mit sich aus dem Zimmer. Auf der Treppe raunte ihm Lord Ruthven ins Ohr: „Erinnern Sie sich Ihres Eides, und bedenken Sie, daß, wenn Ihre Schwester nicht heute meine Gemahlin wird, sie entehrt ist! Die Weiber sind schwach!“ […] Die Vormünder eilten fort, Miß Aubrey zu retten, allein, es war zu spät. Lord Ruthven war verschwunden, und Aubreys Schwester hatte den Durst eines Vampyrs gestillt.
Polidori, S. 69
Die Erzählung wird Byron zugesprochen, der diese Gerüchte, obwohl er das Motiv selbst in Werken wie The Giaour (1813) verarbeitet, von sich weist – möglicherweise, weil Polidoris Vampir Byron selbst offensichtlich ähnelt. Ohne dies wirklich zu wollen, wird Byron so zum Vorbild der folgenden Vampire – im wahrsten Sinne häufig „Byronic heros“.

Dass das Vampirische nicht graphisch gezeigt wird, sondern ebenso gut in der Einbildungskraft des Protagonisten wie in der Realität beheimatet sein kann, unterstützt das Motiv des Vampirs als Grenzgänger und Figur der Verunsicherung, passt zugleich aber auch in die Zeit der Schauerromantik, in der diese frühen Vampirerzählungen entstehen. Kein Wunder, dass auch E.T.A. Hoffmann sich eben dieser Verunsicherung bedient. In einem Abschnitt seines Werkes Die Serapionsbrüder (1819–21) lässt er seine Protagonisten über die Vampirgeschichten seiner Zeit diskutieren, um im Anschluss eine Geschichte, Vampirismus, zu erzählen, in der das Vampirische erstaunlicherweise vollkommen in der Einbildungskraft aufgelöst wird. Für Hoffmann ist das Vampirische kein Zeichen der guten Dichtung, wenn es als reale Figur auftritt, vielmehr soll es in der Zwischenposition verharren, um einen guten schauerlichen Effekt zu erzeugen, der zwischen dem tatsächlichen Auftritt des Monsters und der Einbildungskraft schwangt.
Übrigens meine ich [Lothar, einer der Protagonisten], daß die Phantasie durch sehr einfache Mittel aufgeregt werden könne, und daß das Grauenhafte oft mehr in Gedanken als in der Erscheinung beruhe. Kleists „Bettelweib von Lokarno“ trägt für mich wenigstens das Entsetzlichste in sich, was es geben mag […]. Er durfte keinen Vampir aus dem Grabe steigen lassen, ihm genügte ein altes Bettelweib.
Hoffmann, S. 1147–1149
Trotzdem bleibt Hoffmann klar im Vampirdiskurs seiner Zeit: Mit der Erzählung von der Heirat eines Edelmanns mit einer jungen Frau, die das Essen verweigert und eine eigenartige Beziehung zu ihrer Mutter pflegt, referiert Hoffmann eindeutig auf Goethes Braut von Korinth, zugleich aber auch auf die Geschichte der Ghule, wie wir sie in Sîdi Nu’mâns Geschichte aus 1001 Nacht kennen. Hier zeigt sich, dass der Vampir, wenn er auch vermeintlich unmissverständlich erscheint, mit anderen Wiedergängertypen überblendet werden kann, ohne seinen Kern (als Fremder und als Zwischenwesen) zu verlieren – gleichzeitig wird die enorme Intertextualität deutlich, mit der Vampire, wie wir gesehen haben, zu einem großen Teil als Produkt der Literatur, nicht nur des Volksglaubens, agieren.
Der Vampir passt darüber hinaus in die Ästhetik der Melancholie und des Schreckens der Schauerromantik, in der Phänomene des Grauens, des Fremdartigen, des Gespenstigen und des Wahnsinns eine Rolle spielen und fügt sich in die romantische Vorstellung einer universalistisch gedachten Kunst. „Die Sage von den Vampiren ist vielleicht die universellste Art von Aberglauben“ (Nodier, S. 490), schreibt der Schriftsteller Charles Nodier voller Begeisterung.
Gleichzeitig behält der Vampir seine Verbindung mit (obsessiver) Liebe und Sexualität: Immer öfter nimmt er die Gestalt eines verführerischen Unholds an. Insbesondere Vampirinnen sind dabei immer mit einer dämonisierten Sexualität verknüpft. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert werden diese Elemente aufgenommen und verarbeitet: Die bekannteste Vampirin der Zeit ist sicherlich Joseph Sheridan Le Fanus Camilla (1872), die, genauso wie Polidori, den wohl bekanntesten Vampirroman der Welt inspirierte: Bram Stokers Dracula (1897).
Abraham Stoker, nicht der Vater des Vampirs, aber definitiv ein Mann, der ihn in die Moderne rettete, wurde 1847 in kleinbürgerlichen Verhältnissen in Dublin geboren. Er studierte Geschichte, Literatur, Mathematik und Physik, begeisterte sich aber sein Leben lang für das Okkulte. So verfasste er die Kurzgeschichte Draculas Gast (erstmalig erscheinen 1914, vermutlich früher verfasst), in der er an die deutsche Tradition der untoten Braut anschließt, indem er seinen englischen Protagonisten im Münchener Umland auf eine Untote treffen lässt.
Zur gleichen Zeit sah ich beim Umdrehen, so wahr ich hier stehe, in dem Grabgewölbe eine wunderschöne Frau mit rosigen Wangen und geröteten Lippen, die auf einer Totenbahre zu schlafen schien. Als das Geflacker am Himmel erlosch, wurde ich wie von einer Riesenhand gepackt und ins Freue geschleudert. Alles ging so schnell, daß ich kaum einen seelischen oder moralischen Schock verspürte, als ich schon von den Hagelkörnern niedergeworfen wurde. Plötzlich hatte ich das dumpfe Gefühl, nicht allein zu sein, und blickte in Richtung des Grabmals. Gerade in diesem Moment fuhr erneut ein Blitz herab, der den Eisenstab an der Spitze des Grabes zu treffen und durch ihn hindurch in die Erde abgeleitet zu werden schien, den Marmor dabei, wie in einer Feuersbrust, versengend und zerstörend. Die tote Frau richtete sich plötzlich für einen Moment auf, während sie schon von den Flammen beleckt wurde, und ihre verzweifelten Schmerzensschreie wurden von dem Donnerschlag erstickt.
Stoker Draculas Gast, S. 424
Auch wenn dies von Stoker nicht bestätigt wurde, liegt die Vermutung nahe, dass diese Kurzgeschichte die ursprüngliche Fassung für die ersten, ganz ähnlich erzählten Kapitel, seines berühmtesten Romans war: Für Dracula (1897) ließ er sich zudem, neben der Literatur, von Sir Henry Irving, einem Theaterkritiker, dessen Manager er war, inspirieren, sowie von der historischen Figur des rumänischen Fürsten Vlad Tepes, der Pfähler. Aus dessen Beinamen „Dracul“ machte Stoker „Dracula“ und auch in modernen Inszenierungen ist dieser vermeintlich historische Hintergrund immer wieder aufgenommen worden. Zugleich verarbeitet der Roman, wie auch die oben zitierte Kurzgeschichte, die technischen Möglichkeiten seiner Zeit und rückt den Vampirjäger, der zuvor, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, mit Figuren wie van Helsing erstmalig in den Mittelpunkt.
In der Figur der Lucy Westenra offenbart sich erneut der Vampir, der sich an einer jungen unschuldigen Frau vergreift, aber auch die Vampirin, die zu einer blutrünstigen Verführerin verdammt aufersteht – zugleich zeigt sich der Vampir hier jedoch als erlösungsbedürftig, was später, beispielsweise bei Anne Rice (Interview mit einem Vampir), in das Motiv des Vampirs als tragischen Helden, was besonders das späte 20. Jahrhundert prägt, einfließen wird. Durch den ganzen Text ziehen sich Anspielungen auf das Christentum, sowohl auf religiöse Schriften, als auch auf religiöse Praktiken, neben dem Kanon spiegeln sich aber auch (vermeintliche) Elemente des Volksglaubens, wie das Pfählen.
„Dabei stützte ich mich natürlich auf das Bibelwort: ‘Blut ist Leben!‘“
Stoker, S. 365
Bedeutend ist hier, dass Draculas Wandlungsfähigkeit herausgehoben wird, die sich nicht nur in der Art und Weise, wie er auftritt, zeigt – mal Aristokrat, mal wilde Bestie –, sondern auch in seiner Gestalt – als Rauch, Tier oder Mensch. Der Vampir wird immer mehr zu einer Bedrohung, indem er das Fremde mit dem Bekannten mischt – man kann Dracula in diesem Sinne als Geschichte einer gescheiterten Invasion Londons durch eine (osteuropäische) Macht lesen; der Versuch, das Bekannte durch das Fremde zu ersetzen.
Dracula ist ein Paradebeispiel dafür, wie eine Vampirgeschichte funktionieren kann. Es werden immer wieder Gegensatzpaare aufgestellt, die durch den Vampir aufgelöst und verbunden werden. So wird er zu einem Zwischenwesen, ein Drittes, was nicht einfach das Fremde ist, sondern einen Teil des Fremden in die bekannte Welt bringt und beides verbindet. Die bekannten, festen Strukturen werden damit infrage gestellt. Gleichzeitig etabliert er Bestandteile des modernen Vampirmythos: die vom Vampir bedrohte Frau, die Erlösungsbedürftigkeit, das Pfählen des Vampirs, dass sich Vampire nicht im Spiegel sehen können, die Macht über Elemente und Tiere… und vieles mehr.
Der Vampir, wie wir ihn heute kennen, ist endgültig auferstanden.
Immer wieder wird die Figur in verschiedene Kontexte gesetzt, denn der Vampir als bekannter Fremder übt seine Faszination auf jede Epoche aus. Kein Wunder, dass er über Dracula den Sprung in den modernen Film geschafft und damit endgültig unsterblich geworden ist. Aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal…
Hier geht’s zum Weiterforschen
Verwendete und weiterführende Literatur
Arnold-de Simine, Silke: Wiedergängerische Texte. Die intertextuelle Vernetzung des Vampirmotivs in E.T.A. Hoffmanns „Vampirismus“-Geschichte (1821). In: Julia Bertschik / Christa Agnes Tuczay (Hrsg.): Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Tübingen 2005, S. 129–145.
Crawford, Heide: „Keine Apologie des Grauenhaften“: Toward an Aesteic of Horror in E.T.A. Hoffmann’s „Vampyrismus“. In: Colloquia Germanica 42/1 (2009), S. 19–25. URL: https://www.jstor.org/stable/23982651?seq=1 [zuletzt abgerufen: 16.03.2021].
Hepp, Oliver: Der bekannte Fremde. Der Vampir in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2016 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft Bd. 36).
Hoffmann, E.T.A.: Die Serapionsbrüder. Köln 2020.
LeFanu, Joseph Sheridan: Camilla. In: Sturm, Dieter / Völker, Klaus (Hrsg.): Von denen Vampiren oder Menschensaugern. Augsburg 1997, S. 321–414.
Nodier, Charles: Vampirismus und romantische Gattung. In: Sturm, Dieter / Völker, Klaus (Hrsg.): Von denen Vampiren oder Menschensaugern. Augsburg 1997, S. 490–495.
Polidori, John William: Der Vampyr. In: Völker, Klaus und Dieter Sturm (Hrsg.): Von denen Vampiren oder Menschensaugern. Augsburg 1997, S. 44–69.
Schenkel, Christian: Zwischen Liebe und Vernichtung. Dracula und die Ordnung der Erlösung. In: Begemann, Christian, Herrmann Britta, Neumeyer Harald: Dracula unbound. Kulturwissenschaftliche Lektüre des Vampirs. Freiburg/Berlin/Wien 2008, S. 345–369.
Shelley, Mary: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Stuttgart 2018.
Stoker, Bram: Dracula. Stuttgart 2020.
Stoker, Bram: Draculas Gast. In: Sturm, Dieter / Völker, Klaus (Hrsg.): Von denen Vampiren oder Menschensaugern. Augsburg 1997, S. 414–430.
Sturm, Dieter: Byron oder der romantische Vampir. In: Völker, Klaus und Dieter Sturm (Hrsg.): Von denen Vampiren oder Menschensaugern. Augsburg 1997, S. 454–558.

Eine Antwort zu “Die Erfindung des Vampirs III”
[…] und dem fremden Geschöpf aus dem Wald (mehr zum Vampir als Kreatur des Dritten findest du hier). Sich selbst beschreibt Krolock auch in „Die unstillbare Gier“ zweimal als Zwischenwesen und […]
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